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Ezzes

Ezzes

Titel: Ezzes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Pittler
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Sinne.“
    „Absolut, mein werter Herr, absolut. Sie haben mir und meiner Tochter eine große Freude mit Ihrem Einschreiten bereitet. Erlauben Sie, dass ich mich vorstelle. Universitätsprofessor Martin Kvitek aus Prag – meine Tochter. Auch wir weilen hier zur Erholung, eine Tradition, die wir schon pflegten, als wir noch in Wien lebten. Aber setzen Sie sich doch zu uns, werter Herr Oberstleutnant.“
    Es stellte sich heraus, dass Kvitek in Prag Physik unterrichtete und auch schon einige Fachbücher publiziert hatte, unter anderem ein populärwissenschaftliches Werk über tschechische Naturwissenschaftler, das in großer Auflage auf viel Resonanz gestoßen war. Die Tochter wiederum studierte an der Karl-Ferdinands-Universität, also an der deutschen Sektion der Prager Universität, tschechische und deutsche Literatur, was Bronstein doch einigermaßen überraschte. Er erinnerte sich an die alten Konflikte zwischen Tschechen und Deutschen, die auch in der neuen Tschechoslowakei bei weitem nicht beigelegt waren, und so schien ihm die von der Tochter gewählte Kombination zumindest ungewöhnlich.
    „Ich dachte, Deutsche und Tschechen sind einander nicht ganz grün“, formulierte Bronstein seinen Gedankengang vorsichtig.
    „Das ist nicht so ganz unrichtig“, pflichtete ihm die junge Kvitek wie selbstverständlich bei, „aber umso wichtiger ist es, Brücken zu schlagen.“
    „Richtig“, griff der Vater den Gesprächsfaden auf, „unsere Republik steht auf einem soliden Fundament. Im internationalen Vergleich brauchen wir uns vor niemandem zu verstecken. Allein der Nationalitätenhader hindert uns an einer noch gedeihlicheren Entwicklung. Wenn es uns gelänge, dass Tschechen und Deutsche an einem Strang ziehen, dann würde unser Staat zu einem Vorbild für ganz Europa.“
    Bronstein wusste nicht, was an dieser Sichtweise falsch sein sollte, und so nickte er.
    „Wissen Sie“, fuhr Kvitek fort, „der Häuptling der tschechischen Sozialisten heißt Nemec. Wissen Sie, was Nemec in Ihrer Sprache bedeutet?“
    Kvitek machte eine rhetorische Pause, ehe er fortfuhr: „Deutscher. Und nun raten Sie einmal, wie der Chef der deutschen Sozialdemokraten in unserer Republik heißt!“
    Wieder eine rhetorische Pause. „Ludwig Czech. Ich denke, das sagt alles über diesen sogenannten Konflikt aus. Tschechen und Deutsche leben seit nahezu 700 Jahren auf unserem Staatsgebiet zusammen, da sollte man sich wirklich kleinlicher Streitereien, wer wo wie welches Vorrecht besitzen müsse, enthalten, meine ich. Wohin solcher Zwist führt, haben wir nicht zuletzt im Großen Krieg erlebt.“
    Auch das war, befand Bronstein, wahr.
    „Und daher“, fuhr Kvitek fort, „bin ich auch so stolz auf meine Tochter. Sie personifiziert das Überwinden der Gräben, die unsere gemeinsame Entwicklung hemmen. Und dass sie an der deutschen Sektion studiert, sollte für viele andere ein Signal sein.“
    Bronstein ahnte, was Kvitek meinte. Um solche Orte machten tschechische Nationalisten wohl einen ebenso großenBogen wie Deutschnationale ihrerseits um die tschechischen Hochburgen.
    „Es muss irgendwann einfach gleichgültig sein, ob jemand Deutsch oder Tschechisch als Muttersprache spricht“, statuierte Kvitek, „die wechselseitige Aufrechnung von historischem Unrecht führt zu nichts. Was hinterlässt denn diese Politik von Auge um Auge, Zahn um Zahn? Lauter Blinde und Zahnlose! Nein, mein lieber Herr Oberst, so kann man einen Staat nicht führen. Und schon gar nicht eine Demokratie.“
    „Interessant, dass Sie das erwähnen. Bei uns steht die Demokratie derzeit nicht allzu hoch im Kurs, will mir scheinen.“
    „Keine Frage“, stimmte Kvitek zu, „wir erleben zurzeit hier in Mitteleuropa eine ziemliche Krise des demokratischen Gedankens. Italien und Ungarn werden ja schon lange despotisch verwaltet, und in Polen zeigen sich auch schon deutlich autoritäre Tendenzen. Na, und von Rumänien will ich gar nicht erst reden, die hatten dort nie eine wirkliche Demokratie. Was übrigens auch für den SHS-Staat gilt. Dabei lässt sich doch eigentlich gar nicht leugnen, dass die Demokratie einen nennenswerten Fortschritt gegenüber allen Systemen, die zuvor ausprobiert wurden, darstellt.“
    Bronstein wiegte den Kopf. „Das mag sein. Aber ich fürchte, mit der Idee der Demokratie war eine Menge an Hoffnungen und Erwartungen geknüpft, die zumindest bislang nur unzureichend erfüllt wurden.“
    Was sagte er da? Er wagte sich auf gefährliches Terrain.

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