Ezzes
defensiver Haltung getragen. So war es durchaus möglich, dass Preschitz das Gasthaus des politischen Gegners betreten und dabei einen „Guten Tag“ gewünscht hatte, so wie er es vor Gericht behauptete. Dass er von den Heimwehrlern sodann provoziert wurde, klang ebenfalls glaubwürdig, denn ihm, Bronstein, war eine ganze Menge solcher Rabauken bekannt, die bei jeder Gelegenheit Streit suchten. Allerdings stellte sich schon die Frage, weshalb die Roten tatsächlich just ins Gasthaus der Schwarzen gegangen waren. Sie hätten es wesentlich einfacher haben können, wenn sie zu ihrem Wirten gegangen wären. Bronstein schloss den Gedankengang ab und konzentrierte sich wieder auf den Bericht, wobei er sich wunderte, wie ausführlich dieser war, zumal im Vergleich zu den dürren Zeilen im Amtsblatt. Nicht weniger als fünf Seiten nahm die Geschichte ein, von derartiger Ausführlichkeit war schon lange nichts mehr gewesen. Aber er las das „Kleine Blatt“ üblicherweise nicht, vielleicht war genau dies das Markenzeichen dieser Zeitung, dass sie sich ein Thema herauspickte und dieses dann entsprechend umfangreich darlegte. Und Bronstein, der sich noch immer nicht müde fühlte, las weiter.
Jetzt kam das Gericht nämlich auf die Rolle des Preschitz während der Rätezeit in Ungarn zu sprechen. Offenbar war der spätere Sozi zwischendurch ein Kommunist gewesen und hatte der Regierung Garbai als Funktionär gedient, wofür er vom Regime des Konteradmirals sechs Jahre ausgefasst hatte, von denen er offenbar viereinhalb tatsächlich abgesessen hatte. Für Preschitz sprach, dass die offizielle Auskunft des ungarischen Amtsgerichts seine Ausführungen zum Thema bestätigte. Und den Horthy-Leuten konnte man keinerlei Sympathie für die Roten nachsagen. Wenn die also sagten, jemand habe weiternichts auf dem Kerbholz, dann entsprach das mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit der Wahrheit.
Aber ging es überhaupt um den Preschitz? Nein! Wozu befasste sich das Gericht dann so lange mit ihm? Bronstein spürte, wie er ungeduldig wurde. Die Vernehmung weiterer Augenzeugen überflog er nur noch, doch überraschte ihn schließlich der letzte Satz. Die Verhandlung sei auf Samstag vertagt worden, stand da zu lesen. Es gab also Entwicklungen, die er noch nicht kannte. Vielleicht würde er zum Frühstück eine Sonntags-Ausgabe der Zeitung ergattern, dann konnte er sich darüber informieren, wie der Prozess weitergegangen war. Doch fürs Erste war er nun wirklich müde geworden. Er legte die Zeitung auf dem Nachttisch ab, löschte das Licht und schloss mit einem kaum hörbaren Seufzer die Augen.
V. Montag, 11. Juli 1927
Es war wenige Minuten nach acht Uhr, als er erwachte. Das strahlend schöne Wetter tauchte das ganze Tal in ein malerisches Licht. Er genoss die Szenerie und lehnte sich gemütlich an das Geländer seines Balkons, um einfach seinen Blick schweifen zu lassen. Er verspürte Lust auf eine Zigarette, doch gleichzeitig wuchs der Gusto nach einer Tasse Kaffee. Und so machte er schnell einige Kniebeugen, ging dann zurück ins Zimmer, wo er sich rasch wusch und ankleidete. Keine zehn Minuten später saß er im Restaurant und ließ sich das Frühstück bringen.
„Wünschen der Herr auch eine Zeitung?“
Bronstein dachte kurz nach, dann wandte er sich an den Kellner, der ihm eben die besagte Frage gestellt hatte: „Ob Sie zufällig noch das Kleine Blatt von gestern haben? Ich habe die Samstagsausgabe dieser Zeitung gestern auf meinem Zimmer gefunden, und da war eine Geschichte enthalten, die gestern ihre Fortsetzung erfahren sollte. Und diese Fortsetzung würde mich interessieren.“ Bronstein wusste selbst nicht, warum er sein Anliegen eben so umständlich erklärt hatte, aber es war ihm, wie er merkte, offenbar ein Bedürfnis, nicht als regelmäßiger Leser einer sozialdemokratischen Zeitung zu erscheinen. Der Kellner schien damit jedoch kein Problem zu haben und entfernte sich mit den Worten, er werde sehen, was er tun könne.
Offensichtlich konnte er eine ganze Menge tun, denn Bronstein hatte seine Semmel noch nicht fertig mit Butter bestrichen, als ihm der Bedienstete bereits das Gewünschte auf den Tisch legte. Bronstein bereicherte die Semmel noch mit einer Schicht Marillenmarmelade, dann legte er sie auf den Teller, wischtesich die Finger in der Stoffserviette ab und griff nach der Zeitung. Auf Seite 5 wurde er fündig. Schon die Überschrift erweckte sein Interesse. Der Gendarmeriekommandant bestätige die Aussagen der
Weitere Kostenlose Bücher