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F (German Edition)

F (German Edition)

Titel: F (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Kehlmann
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gefragt, was das denn sei und wozu man es brauche. Sic transit gloria. Vor zwanzig Jahren war das der berühmteste Gegenstand der Welt.
    «Du musst jetzt zur Schule?», frage ich den Jungen.
    Er nickt, und aus reinem Mitleid beuge ich mich vor und streiche ihm über den Kopf. Er zuckt zusammen, sofort ziehe ich die Hand zurück. Wie dumm von mir. Ein Priester muss vorsichtig sein dieser Tage, harmlose Gesten gibt es nicht mehr.
    «Ich habe eine Frage», sagt er. «Letzte Woche im Religionsunterricht. Es ging um Gottes Vorauswissen. Dass er weiß, wie wir uns entscheiden werden, noch bevor wir uns entschieden haben. Wie können wir trotzdem frei sein?»
    Die Gazevorhänge bauschen sich, Lichtflecken tanzen übers Parkett. Das Kreuz auf dem Schrank wirft einen langen Schatten.
    «Das ist ein Mysterium.»
    «Aber –»
    «Mysterium bedeutet, dass es uns offen …, geoffenbart wurde. Gott weiß, was du tun wirst. Du bist trotzdem frei. Deshalb bist du verantwortlich für deine Taten.»
    «Das passt nicht zusammen.»
    «Darum ist es ein Mysterium.»
    «Aber wenn Gott weiß, was ich tue, kann ich doch nichts anderes tun. Wieso bin ich dann verantwortlich?»
    «Das ist ein Mysterium!»
    «Was heißt das?»
    «Musst du nicht zur Schule?»
    «Entschuldigung.» Der Messdiener steht in der Tür: ein Zisterzienser-Laienbruder namens Franz Eugen Legner. Er hat kleine Augen und ist immer schlecht rasiert. Seit zwei Monaten arbeitet er hier, zuvor war er irgendwo in den dunkelsten Alpen beschäftigt. Er hält die Kirche sauber, aktualisiert unsere Website, spielt Orgel und schickt, ich werde den Verdacht nicht los, dem Bischof Berichte über mich. Ich warte darauf, dass er einen Fehler macht, damit ich mich meinerseits über ihn beschweren kann – ein taktischer Präventivzug. Nur leider macht er keine Fehler. Er ist sehr vorsichtig.
    «Du weißt, was du gestern getan hast», sagt er zu dem Jungen.
    «Was habe ich denn getan?»
    «Egal. Du weißt es. Du erinnerst dich daran.»
    «Ja.»
    «Und dennoch warst du frei. Du weißt es, und du hättest doch anders handeln können.»
    «Weil es gestern war!»
    «Aber für Gott», sagt Legner mit weich belegter Stimme, «gibt es nicht heute und nicht gestern. Nicht jetzt, nicht vorhin und nicht in hundert Jahren. Was du tun wirst, weiß er so genau, wie du weißt, was du gestern getan hast.»
    «Das verstehe ich nicht.»
    «Das brauchst du auch nicht», sage ich. «Es ist ein Mysterium.» Wider Willen bin ich beeindruckt. Sechzehn Semester, zwei davon auf der Gregoriana in Rom, aber das wäre mir nicht eingefallen.
    Legner blickt mich an, als hätte er meine Gedanken gelesen. Triumphierend bleckt er die Zähne. Trotz allem tut er mir leid. Armer dürrer Intrigant, wohin hat deine Schlauheit dich gebracht?
    Der Junge hebt seinen Schulrucksack auf, und schon ist er zur Tür hinaus. Sekunden später sehe ich ihn vor dem Fenster die Straße entlangschlurfen. Ich schließe die Augen und durchmische schnell die Farben auf dem Würfel. Dann öffne ich sie wieder und fange an, Ordnung herzustellen.
    «Die Registerzüge pfeifen», sagt Legner. Er blickt nicht auf meine Hände, denn täte er es, müsste er beeindruckt sein, und diese Blöße will er sich nicht geben. «An der Orgel. Wir sollten eine Reparatur in Auftrag geben.»
    «Vielleicht kann der Herr ein Wunder tun.» Warum in aller Welt habe ich das gesagt? Es war nicht einmal witzig. Die rote Seite ist wiederhergestellt.
    Er betrachtet mich lauernd.
    «Nur ein Scherz», sage ich müde.
    «Er könnte es», sagt Legner.
    «Zweifellos.» Auch die gelbe Seite.
    Er schweigt, ich schweige.
    «Aber er wird es nicht tun», sage ich dann. Die weiße.
    «Unmöglich ist es nicht.»
    «Nein, unmöglich nicht.»
    Wir schweigen beide. Die blaue Seite ist fertig. Die grüne.
    «Er könnte es», sagt Legner dann.
    «Aber er wird nicht.»
    «Das weiß man nie.»
    «Nein», sage ich und lege den wiederhergestellten Würfel aus der Hand. «Das weiß man nie.»

    Oft hatte ich vor dem Spiegel gestanden und mich mit kühler Wut vergewissert, dass ich nicht schlecht aussah. Mein Gesicht war ebenmäßig, die Haut passabel, der Körper groß genug, Brust und Kinn breit, die Augen nicht zu klein, und schlank war ich auch. Also woran lag es?
    Heute denke ich, es waren Zufälle. Es gibt kein Fatum, und hätte ich zum Beispiel Lisa Anderson an einem anderen Tag oder zumindest auf andere Weise gefragt, alles hätte anders kommen können, und jetzt hätte ich vielleicht

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