F (German Edition)
sah, dass eine ihrer Wimpern sich gelöst hatte und auf dem Wangenknochen lag. Ich sah eine kleine Aufschürfung an ihrer Schläfe. Ich sah, dass ein Äderchen sich im Weiß des rechten Auges verzweigte, und ich sah die Poren ihrer Haut.
Ihre Lippen legten sich wattig auf meine. Unsicher drückte ich die Hand an ihre Hüfte. Sabine wich zurück, sah mir ins Gesicht, wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen und kam wieder auf mich zu. Wir küssten uns ein zweites Mal, ihr Mund öffnete sich, und ich spürte ein kleines Lebewesen, ihre Zunge. Ihre Brust hob und senkte sich, mein Herz trommelte, ich bekam keine Luft, aber es ging auch, ohne zu atmen. Nach einer Weile zog sie den Kopf zurück. Ich atmete ein. Sie nestelte an meinem Gürtel.
Ich stand auf und ließ zu, dass sie meine Hose herunterzerrte. Dann fasste sie meine Unterhose, zog daran und betrachtete meine Nacktheit. Aus dem Fernseher plärrte der Tatort -Vorspann. Ich sah auf ihre Brüste. Rund waren sie, groß und voll unter der Bluse. Ich streckte die Hände danach aus, sie beugte sich vor, um mir entgegenzukommen. Die Tür öffnete sich, und ihr Vater kam herein, gefolgt von ihrer Mutter und ihrer Schwester, gefolgt von einem Dackel, gefolgt von meiner Mutter.
Keiner sagte ein Wort. Schweigend sahen sie zu, wie ich Unterhose und Hose hochzog und den Gürtel schloss. Der Hund grunzte, legte sich auf den Teppich, streckte die Beine in die Luft und wartete darauf, dass jemand ihn kraulen würde. Das Anziehen dauerte länger als sonst, meiner zitternden Hände wegen. In meinen Ohren rauschte es noch lauter als zuvor, und der Fußboden schien sehr weit weg. Der Hund seufzte bittend und vergeblich. Im Fernsehen sagte ein schnurrbärtiger Polizist etwas über einen Haftbefehl und die Kripo Duisburg. Ich durchquerte das schwankende Zimmer, nahm Lateinbuch, Schulheft, Wörterbuch und Füllfeder vom Esstisch und ging zur Tür. Sabines Eltern traten zur Seite, um Platz zu machen. Die Schwester kicherte. Meine Mutter ging mir voraus.
Wir stiegen die Treppe hinunter.
«Sie haben auf den Bus gewartet», sagte sie. «Ich bin zufällig vorbeigefahren. Ich habe angeboten, sie heimzubringen. Dann wollte ich dich mit nach Hause nehmen.» Sie schwieg ein paar Sekunden. «Entschuldige.»
Sie schloss die Autotür auf, ich setzte mich auf den Beifahrersitz. Sie drehte umständlich den Rückspiegel zurecht und ließ den Motor an.
«Ich habe nicht gedacht …!», sagte sie. «Ich meine. Weil Sabine. Ich hätte nicht gedacht …! Sie ist ja nicht gerade. Ich meine, ich wäre einfach nicht …»
Ich sagte nichts.
«Als ich deinen Vater kennengelernt habe …»
Ich wartete. Sie sprach nie über Arthur. Aber entweder war ihr eingefallen, dass es nicht der richtige Moment war, oder sie wollte es plötzlich doch nicht mehr preisgeben, jedenfalls führte sie den Satz nicht zu Ende. Sie sagte kein Wort, bis wir daheim ankamen.
Einfach aufgeben – was war so schlecht daran? Der Gedanke war kühl, groß und verlockend. Ich wurde Zweiter bei den Landesmeisterschaften, ich qualifizierte mich für die nationale Meisterschaft, aber ich wusste inzwischen, dass der Würfel sich nie würde zu einem Beruf machen lassen. Entgegen all meinen Hoffnungen waren die Regierungen nicht interessiert an den Diensten von Rubik-Könnern, auch die großen Firmen hielten nicht Ausschau nach ihnen, und sogar die Hersteller von Computerprogrammen und Spielzeugartikeln bevorzugten Leute mit Abschlüssen in Mathematik und Wirtschaft.
Ich aber fühlte mich wohl in halbdunklen Räumen, ich hörte gern Musik von Monteverdi, und mir gefiel Weihrauchduft. Ich mochte die Fenster alter Kirchen, ich mochte das Netz der Schatten in gotischen Gewölben, ich mochte die Darstellungen von Christus Pantokrator, dem goldumfassten Heiland als Herrscher der Welt, ich mochte Holzschnitte des Mittelalters, ich mochte auch die sanfte Menschlichkeit der Madonnen Raffaels. Ich war beeindruckt von den Bekenntnissen des Augustinus, ich fühlte mich belehrt von den Haarspaltereien des heiligen Thomas, ich empfand eine warme Zuneigung zur Menschengattung an sich, und ich hatte wirklich keine Lust, meine Tage in einem Büro zu versitzen. Außerdem war ich unbegabt dafür, mich selbst anzufassen. Eine Zeitlang hatte ich es regelmäßig getan, wütend, voll Ekel, überzeugt davon, eine ästhetische Verfehlung zu begehen, eine Sünde eher gegen die Schönheit als gegen die Moral. Ich sah mich dabei wie von weitem: ein
Weitere Kostenlose Bücher