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F (German Edition)

F (German Edition)

Titel: F (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Kehlmann
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verstecken, wie nervös ich war, redete ich weiter.
    Sie strich sich durch die Haare, sah auf den Boden, sah mich wieder an, und jetzt war etwas Gezwungenes in ihren Bewegungen. Besorgt redete ich schneller. Sie strich sich wieder durch die Haare, aber sie sagte nichts mehr. Und ich redete. Ich wartete darauf, dass ein Instinkt mir verraten würde, was ich jetzt tun musste, aber dieser Instinkt blieb stumm. Woher wussten andere, wie man vorging, wo stand es geschrieben, wie lernte man es? Ich sah auf die Uhr, um mich zu überzeugen, dass wir noch genug Zeit hatten, aber sie missverstand den Blick und sagte, sie müsse auch heimgehen. «Schon?», rief ich, und: «Nein!», und: «Jetzt noch nicht!», aber dann fiel mir nichts mehr ein. Beide schwiegen wir ins Dröhnen der Musik. Neben uns tanzten betrunkene Schüler, die Leiber aneinandergepresst im dichten Zigarettenrauch, am Fenster küssten sich zwei. Hanna ging zögernd hinaus.
    «War es schlimm?», fragte meine Mutter. Sie war noch wach. Das war sie meistens, wenn ich spät heimkam. Sie saß in der Küche und rührte Zitronenwasser in eine Tasse Tee.
    «Was denn?»
    «Das weiß ich nicht, aber ich sehe dir an, es war schlimm.»
    Sie legte den Löffel wie einen zerbrechlichen Gegenstand neben die Tasse. «Manche Dinge muss man wieder versuchen. Wieder und wieder. Trotz aller Niederlagen. Du denkst, es geht nur dir so, aber so ist es für alle. Es ist absurd, trotzdem weiterzumachen. Aber trotzdem macht man weiter.»
    «Wovon redest du?», fragte ich trocken.
    Sie schwieg einen Moment. «Von den Meisterschaften. Das wird. Du darfst dich nicht entmutigen lassen.»
    Obwohl sie noch gar nicht alt war, wurden ihre Haare schon grau. Ein wenig rundlich war sie, und sie lächelte oft auf eine abwesende, traurige Art. In diesem Augenblick, in der Küche, nach Mitternacht, dachte ich vieles auf einmal: Ich dachte, dass sie natürlich recht hatte, und ich dachte, dass ich so etwas nicht mit ihr besprechen konnte, und ich dachte, dass ich in früheren Zeiten daheim bleiben und mit ihr hätte leben dürfen, befreit von Wettkampf und Not, umhüllt von ihrer Fürsorge, ohne dass jemand das sonderbar gefunden hätte. Erst im Zeitalter der Psychologen war so etwas verpönt.
    Ich nahm mir auch eine Tasse. Aus dem Nebenzimmer, wo der Plattenspieler stand, kam leise Klaviermusik. Ich schenkte mir Tee ein. Musste man denn hinaus in die Welt? Konnte ich wirklich nicht hier leben, in diesem Haus, in dieser Küche?
    Sie schüttelte den Kopf, als hätte sie meine Gedanken gelesen. «Nicht aufgeben», sagte sie. «Das ist der ganze Trick.»
    «Aber warum nicht?»
    Sie schwieg. Ich nahm meine Tasse und ging zu Bett.
    Wiederum ein paar Monate später befand ich mich in Sabine Wegners Wohnung. Wir waren allein, ihre Familie war ausgegangen, wir wollten Latein lernen. Sabine war fett. Sie war ein liebenswürdiges Mädchen, klug und warmherzig, aber alles an ihr war fett: Gesicht, Waden, Körper, Hände. Und ich, der noch nicht ahnte, wie ich selbst einmal aussehen würde, blickte so spöttisch auf sie herab wie alle anderen. Ihre gesamte Erscheinung sagte, dass sie nicht am Spiel teilnahm. Sie kam nicht in Betracht.
    Wir saßen am Esstisch und entschlüsselten Tacitus. Sabine trank Pfefferminztee, ich trank Apfelsaft. Schließlich waren wir fertig, und ich stand auf.
    «Aber die Nachrichten beginnen gleich», sagte sie.
    Wir setzten uns aufs Sofa. Gorbatschow und Reagan gaben einander die Hände, Honecker jaulte in ein Mikrophon, Tom Cruise saß in einem Cockpit, eine Frau vor bläulichem Hintergrund kündigte Regen an, und schon begann die Werbung: Eine Hausfrau schwenkte ein Handtuch und sagte zu einem stolzen Mann mit Krawatte und Aktentasche, sauberer sei es noch nie geworden. Da legte ich Sabine die Hand auf den Nacken.
    Im ersten Moment hielt ich es für ein Versehen. Warum tat ich das, was fiel mir ein?
    Sie saß starr. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass sie den Kopf nicht drehte. Nimm die Hand weg, dachte ich, jetzt geht es noch. Ich beugte mich zu ihr. In meinen Ohren rauschte es, mein Herz klopfte.
    Aber sie ist so fett, dachte ich.
    Und ich dachte: Aber sie ist ein Mädchen.
    Da drehte sie den Kopf. Ihr Blick war eigentümlich verschwommen. Der große Schatten ihres Körpers, der süßliche Geruch des Parfums, meine Hand auf ihrem weichen Nacken.
    Mir war schwindlig. So fett, dachte ich, ist sie nun auch wieder nicht. Und ihr Gesicht, verzerrt von der Nähe, war nicht hässlich. Ich

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