Fabelheim: Roman (German Edition)
ihrem Lichtschein.
Furchtbare Kritzeleien und Bilder starrten sie von den Wänden an. In einer Ecke waren merkwürdige Schätze aufgehäuft – Götterfiguren aus Jade, mit Stacheln versehene Zepter und juwelenbesetzte Masken.
Kendra suchte den Raum nach ihrer Familie ab. Am leichtesten war Seth zu entdecken. Er befand sich in einem riesigen Glas, in dessen Deckel Atemlöcher gebohrt worden waren. Außer ihm waren noch Blätter und einige Zweige in dem Glas. Er sah aus, als wäre er hundert Jahre alt. Tiefe Falten durchzogen sein Gesicht, und er hatte nur noch ein paar Büschel weiße Haare auf dem Kopf. Er legte eine runzelige Hand an das Glas.
Kendra vermutete, dass es sich bei dem an die Wand geketteten Orang-Utan um Opa handeln musste. Der große Katzenfisch, der in dem Wasserbecken neben ihm schwamm, war wahrscheinlich Lena. Von Oma konnte sie keine Spur entdecken.
Flankiert von ihrer Feeneskorte, eilte Kendra zu ihrer Familie. Dutzende abscheulicher Kobolde rangen mit Feen. Die Kämpfe dauerten jedoch nur so lange, bis ein
Kuss die Kobolde in ihre ursprüngliche Gestalt zurückverwandelte.
Kendra erreichte das riesige Glas. »Geht es dir gut, Seth?«
Ihr ältlicher Bruder nickte schwach. Sein Lächeln offenbarte, dass er keine Zähne mehr hatte.
Ein Kobold stürzte sich fauchend auf Kendra. Die blaue, pelzige Fee fing das Geschöpf mitten im Flug ab und hielt seine Arme fest. Die Kreatur sah aus wie der Kobold, der zuvor ihren Bruder ergriffen hatte. Die Albinofee flog heran und gab dem Kobold einen Kuss auf den Mund, woraufhin er sich in eine wunderschöne Fee mit feuerrotem Haar und durchsichtigen Libellenflügeln verwandelte.
Seth begann an das Glas zu klopfen. Er deutete aufgeregt auf die Fee. Kendra wurde klar, dass es sich tatsächlich um die Fee handelte, die er unwissentlich verwandelt hatte.
Die rothaarige Fee näherte sich dem Glas und drohte Seth mit dem Finger. »Es tut mir leid«, murmelte Seth hinter der gläsernen Scheibe. Er faltete flehend die Hände. Die Fee betrachtete ihn mit zusammengekniffenen Augen. Dann schnippte sie mit den Fingern, und das Glas zersprang. Sie beugte sich vor und küsste Seth auf die Stirn. Seine Falten glätteten sich, und sein Haar kehrte zurück, bis er wieder aussah wie früher.
Kendra nahm die Milchflasche aus ihrer Tasche und reichte sie Seth. »Heb etwas für Oma und Opa auf.«
»Aber ich kann sie sehen...«
Ein ohrenbetäubendes Brüllen ließ den Raum erzittern. Eine Kreatur, bei der es sich nur um Bahumat handeln konnte, kam aus der Nische hervor. Der abscheuliche Dämon war dreimal so groß wie ein Mensch und hatte einen von drei Hörnern gekrönten Drachenkopf. Der Dämon
ging aufrecht und hatte drei Arme, drei Beine und drei Schwänze. Ölige, schwarze Schuppen, aus denen mit Widerhaken versehene Dornen ragten, bedeckten seinen grotesken Leib. In den bösartigen Augen funkelte das Licht einer bösartigen Intelligenz.
Neben ihm schwebte die geisterhafte Frau, die Kendra in der Mittsommernacht draußen vor ihrem Fenster gesehen hatte. Ihr ebenholzschwarzer Umhang bewegte sich seltsam fließend, wie unter Wasser. Die unirdische Erscheinung erinnerte Kendra an ein Fotonegativ. Auf der anderen Seite von Bahumat stand Muriel, die jetzt ein mitternachtsschwarzes Gewand trug. Sie grinste die Feen an und betrachtete voller Zuversicht den riesigen Dämon.
Es waren keine Kobolde mehr im Raum, und eine Schar leuchtender Feen stellte sich den letzten drei Gegnern.
Bahumat ging in die Hocke. Tintenfarbene Dunkelheit sammelte sich um ihn herum. Mit einem Brüllen wie von tausend Kanonen, die gleichzeitig abgefeuert wurden, sprang der Dämon vorwärts. Eine schwarze Schattenwand schlug ihnen entgegen wie eine Woge aus Pech. Absolute Dunkelheit verschlang den Raum. Kendra fühlte sich, als wäre sie plötzlich blind geworden. Obwohl sie sich die Hände auf die Ohren presste, war das Brüllen des Dämons ohrenbetäubend.
Der Schatten, den Bahumat ausgespieen hatte, schien keine Substanz zu haben. Er war nur Dunkelheit. Aber wo waren die Feen? Wo war ihr Licht?
Der Boden vibrierte, und ein Geräusch wie von einem Erdrutsch überlagerte das Brüllen des Dämons. Plötzlich durchflutete Tageslicht den Raum. Als Kendra aufblickte, sah sie einen blauen Himmel. Die schrägen Strahlen der aufgehenden Sonne fielen in den Keller. Die ganze Kirche war eingerissen worden!
Die Feen, die von oben herabstürzten und aus allen Richtungen angriffen, bildeten eine
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