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Fado Alexandrino

Fado Alexandrino

Titel: Fado Alexandrino Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: António Lobo Antunes
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kreisförmigen Fleck des Publikums, er rannte schließlich in Unterhosen über den Mittelgang davon, verfolgt von der verstimmten Musik des Orchesters, von der Beharrlichkeit der Scheinwerfer, vom Spott der Zuschauer, er wachte mit einem Satz auf der Matratze auf und hörte in der Stille ganz nah neben sich die flüchtigen Akkorde endlosen Pinkelns,
große offene Münder, die schnarchten, das Rascheln von Decken, auf den Bettüchern gestrandete Körper, das schrille, ferne Pfeifen einer Lokomotive in der Dunkelheit, die mit dem scharfen Messer ihres Schreis den Bauch der Nacht aufschlitzte, der voll schlafender Menschen war, und noch weiter weg, tonlos, klagend und traurig, das elende Brausen des Meeres.
    – Und daher, Herr Hauptmann, sagte er, indem er einer klapperdürren Blonden eilig die Zigarette mit dem Korkmundstück anzündete und ihr mit Zeremonienmeistergehabe den schwefligen Champagner ins Glas goß, den sie seit einer Stunde tranken und der aus ihren Mägen, Eingeweiden, Lebern geröstete Grieben gemacht hatte, hatte ich mich an den Gedanken gewöhnt, im Gefängnis alt zu werden, ewig auf die Verhandlung zu warten, die niemals kommen würde, wäßrige Suppen, rohe Kartoffeln und schwammiges Brot vom Vortag zu essen, bis sie mich tot auf der Matratze des Schlafsaals finden würden, mit dem kristallisierten Zucker einer Spuckelippe rund um die faulige Frucht des Mundes. Und am Ende, sehen Sie, als ich schon überhaupt nichts mehr erwartete, als ich mich an den verlassenen Gefängnishof und seine drei oder vier mickrigen Bäumchen gewöhnt hatte, an die Straße dort unten, auf der ständig gebaut wurde, auf der winzige Fahrräder fuhren, Leiterwagen hinter gesenkten Köpfen und seltene dunkle Autos, an die schimmligen Tage und die stürmischen Nächte, in denen die Wellen sich, Ödland und Schornsteine erklimmend, in einem sterbenden Schleim aus Schaum an den Knöcheln auflösten, als ich mich sogar an die Gleichgültigkeit und das Schweigen der anderen gewöhnt hatte, am Tag nach Emílios Ankunft im Gefängnis, kam dieses ganze Durcheinander, die Soldaten, der Applaus, die Reporter, der Lärm, die Freiheit, wir traten, geblendet von so vielen Umarmungen, so viel Lächeln, so viel Freude, so viel Magnesium der Fotografen, so vielen Interviews, aus dem Tor, und ich dachte, während ich gezogen, geschoben, gefeiert, eingezwängt, fotografiert wurde, Ich möchte in mein Etagenbett zurück, mich mit dem übelriechenden Kopfkissen
zudecken, mich in die dreckigen Bettücher einwickeln, den faulen Fisch am Sonntag essen, dort bleiben: Das Elend ist nur in der ersten Zeit schwierig, Herr Hauptmann, ein paar Wochen später, wie im Krieg, sehen Sie, wenn sie uns die Lumpen, die Wanzen, die Läuse, die Scheißeknödel am Hintern wegnehmen, haben wir eine Wahnsinnssehnsucht danach. Und ich hatte nicht für fünf Pfennig Lust, zu dieser nervigen politischen Arbeit zurückzukehren, zur Lenin- und Mao-Tse-tung-Lektüre, zu den exaltierten Diskussionen, hatte Klassenkampf und Zigaretten satt, wollte nicht mehr zur Arbeit am Terreiro do Paço zurückkehren, wo die Cacilhas-Fähren schnaufend dicht an den Fensterscheiben vorbeigleiten wie große, dicke, müde Ziegenböcke, Akten abheften, Akten mit Vermerken versehen, Akten herausholen, ganz selten mal ein Kinobesuch, ein verschämtes Glas in einer Bar, und der Weg nach Haus, zu Fuß, die Hände in den Taschen, durch Straßen mit erloschenen Fenstern und Schaufenstern und Leuchtreklamen, dabei von irgendwie sich widersprechenden, heftigen und dummen Plänen träumen, eine Frau mit Lockenwicklern auf dem Kopf, häßlich oder hübsch, egal, Dália zum Beispiel, die im Morgenmantel auf mich wartet, im Bett, den Bauch nach oben, Krimis lesen, zärtlich mit dem Fuß einen Knöchel berühren, der nicht meiner ist. Vielleicht war ich damals, Herr Hauptmann, nichts weiter als ein gescheiterter Sozialdemokrat, ein gefährlicher, von seinem kleinen nutzlosen Glück besessener Individualist, ein Privilegierter mit schlechtem Gewissen, vom Schuldgefühl zerfressen, nie gehungert, acht Geschwister, eine Baracke in Galinheiras, einen betrunkenen Vater gehabt zu haben, der in den Gassen Hühnerstückchen auskotzt, eine Großmutter in Mitra zwischen zig versteinerten, reglosen Achtzigjährigen, die in Alligatorenschluckbewegungen die löchrigen Hufeisen ihrer Kiefer vor- und zurückschiebt.
    Er sah Emílio kurz vor dem Mittagessen mit rasiertem Kopf an der Mauer lehnen und erkannte ihn

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