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Tochter des Schweigens

Titel: Tochter des Schweigens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: West Morris L.
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1
    Es war heller Sommermittag in den Hochtälern der Toskana. Eine träge Zeit, die Jahreszeit von Staub und Schlaffheit, von abgeerntetem Flachs und Lerchen in Stoppelfeldern, von neuem Wein, der heranreifte im Land der alten Götter.
    Es war eine Stunde des Glockenschlags – träge schwingend über die Gräber toter Heiliger und vergessener Landsknechte. Eine Stunde der Dunkelheit hinter geschlossenen Läden, denn wer anders als Hunde und törichte Amerikaner würde sich der heißen Augustmittagssonne aussetzen?
    Im Dorf San Stefano klangen die ersten Schläge des Angelus über die Piazza. Still lag das Dorf, schläfrig und satt von einer guten Ernte, in der Hitze.
    Ein alter Mann blieb stehen und bekreuzigte sich mit gesenktem Kopf. Vor der Tür des Restaurants stand ein dicker Bursche mit weißer Schürze und einem karierten Tuch über dem Arm und stocherte mit einem Streichholz in den Zähnen. Ein Polizist mit einem Eselsgesicht trat vor seine Tür, spähte träge über den Platz, spie aus, kratzte sich und kehrte zu seinem Wein und Käse zurück.
    Aus den Mäulern müder Delphine rann ein dürftiger Wasserstrahl in das flache Becken des Brunnens, in dem ein dünner kleiner Bursche ein Boot aus Papier schwimmen ließ. Ein Mann zog einen Karren klappernd über das Kopfsteinpflaster, hochbeladen mit Reisigbündeln und braunen Beuteln Holzkohle, auf denen hoch oben ein winziges kraushaariges Mädchen thronte. Eine barfüßige Frau, ein Baby im Arm, trat aus der Weinhandlung und ging über die Piazza zur Allee am anderen Ende. Ein paar Kilometer entfernt ragten die Türme und Dächer Sienas in den kupfernen Dunst.
    Es war eine friedvolle Szenerie, mit wenig Menschen, seltsam antik anmutend und bewegt nur vom langsamen Pulsschlag des Landlebens. Hier floß die Zeit träge dahin, wie das Wasser des Brunnens, und der einzige Wechsel war der von Alter und Jahreszeit. Es war ein Platz, wo Tradition viel wichtiger schien als Fortschritt, wo Überliefertes gepflegt und verehrt wurde wie alte Liebe und alter Haß.
    Eine Straße führte hinein, und eine hinaus, von Arezzo nach Siena. Doch nur im Sommer gab es auf ihr spärlichen Verkehr. Handel und Tourismus hatten San Stefano nie berührt. Die Güter in den Tälern waren klein und wurden von ihren Bauern eifersüchtig vor Fremden bewahrt. Wer fortging, galt als ruhe- oder wurzellos oder von Ehrgeiz geplagt. Das Dorf war froh, solche loszuwerden.
    Noch ehe das letzte Echo der Glocke verhallte, war die Piazza menschenleer. Die Läden waren geschlossen, die Vorhänge zugezogen; und der Staub setzte sich in die Pflasterritzen, während das Zirpen der Zikaden sich grell und monoton aus den Feldern der Umgebung erhob.
    Knapp zehn Minuten später trat der Glöckner aus der Kirche, ein älterer Mönch in der staubigen Kutte der Franziskaner, mit weißem Haar, in das eine Tonsur geschnitten war, und einem roten Gesicht, so rund wie ein Winterapfel. Einen Augenblick stand er im Schatten des Portals und trocknete sich das Gesicht mit einem roten Taschentuch. Dann zog er die Kapuze über den Kopf und ging mit klappernden Sandalen über die glühendheißen Steine der Piazza.
    Er hatte noch keine zehn Schritte getan, als ein höchst ungewöhnlicher Anblick ihn stehenbleiben ließ. Ein Taxi aus Siena kam langsam auf die Piazza gerollt und blieb vor dem Restaurant stehen. Eine Frau stieg aus, bezahlte den Fahrer und sah dem Wagen nach, bis er verschwunden war.
    Sie war jung, bestimmt nicht älter als fünfundzwanzig, und ihre Kleidung war die einer Städterin: ein Schneiderkostüm, weiße Bluse, modische Schuhe und eine Tasche an einem Lederriemen über der Schulter. Sie trug keinen Hut, und ihr dunkles Haar fiel in Wellen über ihre Schultern. Ihr Gesicht war blaß, still und von einzigartiger Schönheit, wie das einer wächsernen Madonna. In der menschenleeren, im Sonnenglast liegenden Piazza wirkte sie unsicher und vereinsamt.
    Eine Weile stand sie da und sah sich um, als suche sie sich in einer einst vertrauten Gegend zurechtzufinden. Dann ging sie mit entschlossenen Schritten zu einem Haus zwischen Weinhandlung und Bäckerei und zog die Glocke. Eine dicke Matrone in Schwarz mit weißer Schürze öffnete die Tür. Sie wechselten ein paar Worte, und die Matrone bat sie mit einer Geste, einzutreten. Sie lehnte ab, und die Matrone ging, die Tür offenlassend. Das Mädchen wartete und suchte etwas in ihrer Tasche, während der Mönch, neugierig wie jeder Landbewohner, beobachtete, was

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