Fahrtenbuch - Roman Eines Autos
bis ihr der Kopf dröhnte, Bobby Vee und Little Richard und Chris Montez und Betty Everett und Chubby Checker. Sie versuchte, all das zu verdrängen. Sie versuchte, sich einzureden, die Frau tue dem Jungen (sie sagte immer: mein Junge) gut, bringe Stabilität in sein Leben, aber wenn sie ehrlich war, konnte sie keine Anzeichen von irgendeiner Stabilität erkennen, mal abgesehen davon, dass der Junge nicht, wie ihr Schwager es noch in Mannheim prophezeit hatte, in der Gosse gelandet war, sondern eine erstaunliche Karriere gemacht hatte, nicht zuletzt auch dank des Geldes, das seine Frau von zu Hause mitbrachte …
Trotzdem. Bellmanns Mutter verschanzte sich, soweit es ging, in dem ihr zugeteilten Bauernkatenreservat, aber manchmal waren Expeditionen ins Wohnzimmer unvermeidlich, und dann lief sie, wie eine mittelalterliche Bäuerin, mit kurzen, festen Schritten ratlos über die Flokatis durch die seltsame Welt, in die man sie verpflanzt hatte und in der die böse Königin Ingrid regierte.
Als Bellmann Ingrid kennengelernt hatte, war sie sechzehn; als er sie heiratete, war sie vierundzwanzig, und die Jahre, die dazwischenlagen, waren die hysterischsten des gesamten Jahrhunderts: Zwar wurden die Trümmer des Krieges unter einer meterdicken Schicht aus Sahnetorten und Pastellfarben und Bergromantik begraben, aber es wurde nichts mehr normal, im Gegenteil; die mit zahlreichen Hilfsmitteln zum Glänzen gebrachten Frisuren erreichten die Höhe schwarzlackierter Helme, die Art zu tanzen wandelte sich vom eng verklammerten Nachkriegsgeschiebe zu einem durchgedrehten Zucken und Schlenkern, den Autos wuchsen zentnerschwere Chromgeschwüre und gigantische Haifischflossen, die Tische schwangen sich wie vom Wahnsinn befallene Urwaldboas durch die Wohnzimmer – und während die Amerikaner den Schulkindern allen Ernstes beibrachten, dass man bei kommunistischen Atomangriffen unbedingt unter den Tisch kriechen und ein Buch über den Kopf halten müsse (»duck and cover«), machten Ingrid und er das Beste aus der lebensbedrohlichen Situation: Sie feierten, als stünde der Weltuntergang unmittelbar bevor.
Hans Joachim und Ingrid Bellmann hatten eine tiefsitzende Angst vor dem großen Atomschlag – eine Angst, die sie nur bei den zahllosen Festen, die sie am Pool veranstalteten, vollständig vergessen konnten und die sofort, wenn es still wurde, wieder zwischen den hellen Plastikschalen und den polierten Teakmöbeln hervorkroch, weswegen sie viel und gern feierten.
Ein paar alte Fotos zeigen die beiden auf einem Fest unter japanischen Lampions; Ingrid trägt silbern funkelnde Stilettos und ein Kleid mit Metallpailletten, ihre Haare glühen platinblond, ihre Beine sind dunkelbraun von den Sommernachmittagen am Pool, und unter ihren Augen scheint, soweit man es auf dem Foto erkennen kann, ein Schatten zu liegen, aber vielleicht sind es auch nur Sommersprossen.
Hinter ihnen der Tumult einer fortgeschrittenen Cocktailparty: verrutschte Frotteekleider, Hemden mit Schweißflecken, sich auflösende Frisuren – Paare treiben im schleifenden Takt eines Dusty-Springfield-Songs über die Tanzfläche, Männer schwitzen in ihren Pullundern, Frauen tanzen barfuß im Wohnzimmer, im Garten gießt ein Dicker einem anderen, der im Gras liegt, Wodka in den geöffneten Mund, im Pool treibt ein Damenschuh, an dessen Hacke jemand das Ende eines Schlipses gebunden hat, in der Hollywoodschaukel liegen zwei kompliziert Verknotete, und die Musik umhüllt sie wie ein Hauch von Wahnsinn.
Er erinnert sich an dieses Fest: Es war spät im Sommer. Auf den Feldern hatte die Maisernte begonnen, am Horizont verschwanden die Mähdrescher in trockenen Staubwolken und auf den Straßen lagen Erdbrocken, die aus dem Profil der Traktorenreifen gefallen waren; die Kinder bewarfen sich damit.
Sie fuhren zum Getränkehändler, um kaltes Bier zu holen. Sie saß auf dem Beifahrersitz; in der rechten Hand hielt sie ein halbleeres Cocktailglas und eine Zigarette, ihre linke hatte sie in seinen Nacken gelegt; im Rückspiegel sah er die Gänsehaut auf ihrem Arm. Bevor sie zurückfuhren, tranken sie ein Bier auf dem Parkplatz des Supermarkts und dann noch eins während der Fahrt. Er fuhr scharf nach rechts in einen Feldweg, sie machte ihren Gurt los, und die Schnalle ihres Schuhsschrammte über das Polster des Beifahrersitzes; später sah er, dass an einer Stelle ein Schlitz im dunklen Leder klaffte.
Noch Jahre später erzählte ein Nachbar gern, dass es bei diesem Fest, als
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