Fahrtenbuch - Roman Eines Autos
Verbrennungsfälle, dann in einer für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie gearbeitet, wo er die Spätschäden schlecht versorgter Kriegsverletzungen und Kiefergaumenspalten zu sehen bekam, Unfälle und Brüche aller Art, ein Schreckenspanoptikum, das er in möglichst ansehnliche Gesichter zurückverwandelte.
Von Zeit zu Zeit schnitt er die Hecke, die das Grundstück von der Straße trennte; der hellgrüne Fleck wucherte allmählich zu. Einmal in der Woche begleitete er seine Mutter in ein Café in der Stadt. Sie saßen nebeneinander im Mercedes und wechselten kein Wort, auch später im Café nicht. Er las eine Zeitung oder schenkte ihr Tee nach, sie rührte Zucker in ihre Tasse, putzte ihre Brille, lächelte unsicher und warf ihm hin und wieder einen Blick zu, in dem Enttäuschung, Sorge oder vielleicht auch Mitleid lagen. Meist schaute sie durch die Panoramascheibe in die sonntäglich leere Straße, an deren Rand, mit dynamisch schräggestellten Vorderreifen, der Mercedes parkte. Einmal stand er auf der Rückfahrt neben dem Opel der Nachbarn. Diesmal sangen sie nicht, und als die Ampel auf Grün schaltete, gab Bellmann leicht Gas. Der Nachbar versuchte, angefeuert von seinen Kindern, mit ihm mitzuhalten, der Opel gab ein dünnes Kreischen von sich, Bellmann winkte den Kindern mit der linken Hand zu und trat das Gaspedal durch, und während seine Mutter in den Beifahrersitz gepresst wurde, sah er im Rückspiegel das grimmige Gesicht des Opelfahrers und das seiner gestikulierenden Frau.
In dieser Zeit stellten Freunde des Paares einige Veränderungen fest. In Ingrids blondes Haar mischten sich graue Strähnen, und an ihren Mundwinkeln bildeten sich kleine Falten. Bellmann hatte sichtlich einen Bauch bekommen und trug jetzt öfter eine Brille, und seine einst beeindruckende Tolle wurde immer flacher und lichter, bis sie ganzverschwand. Es gab vielleicht im gesamten vergangenen Jahrhundert keinen schlechteren Zeitpunkt für Haarausfall: Zwischen 1966 und 1970 hatte sich die Weltgesamthaarmenge mindestens vervierfacht, nur auf Bellmanns Kopf schlug das Alter zu, ein Grund, warum er, anders als früher, nicht mehr gern den großen Rock-’n’-Roll-Hit »Lend Me Your Comb« hörte. Sie schliefen nicht mehr oft miteinander: Morgens wurde ihr schlecht davon, abends war sie zu müde. Sie begann, ungeschminkt zu frühstücken und erst mittags zu duschen;ihr Gesicht wirkte weicher und glanzloser. Seine Mutter ließ immer öfter ihre Zimmertür offen stehen; der säuerliche Geruch lange nicht gelüfteter Räume, ein Geruch von Hühnersuppe, Damenparfüm und Wolldecken, verschwitzten Nachthemden und altem Menschen, drang wie durch eine Körperöffnung in den Flur des Bungalows.
Manchmal traf er abends in einer Eckkneipe, in der es Astra und Bratwurst gab, einen Kollegen, mit dem er studiert hatte. Der Mann hieß Bernd Oberwald; er war ein stiller, besorgt schauender Mensch, der in einem anderen Krankenhaus als Oberarzt arbeitete. Den ganzen Tag lang lief er gehetzt durch die Gänge, schaute nach Patienten, operierte und befühlte sie und schüttelte dabei oft den Kopf, als verzweifelte er angesichts der Fehlerhaftigkeit der Schöpfung. Nur am Wochenende, wenn er keinen Dienst hatte, fand er Ruhe und wirkte entspannt. Er angelte gern. Nach Stunden reglosen Wartens zog er dann einen zappelnden Karpfen aus dem Wasser, drückte ihn auf den Holzboden seines Ruderbootes und schlug ihm mit dem Griff seines Messers auf den Kopf und stach ihm in die Herzkammer, wobei er wieder den traurigen, ernsten Gesichtsausdruck bekam, den auch seine Patienten kannten.
Manchmal tauchten, auf lautlosen Kreppsohlen über den Gehweg schleichend, die Nachbarn auf. Sie waren erst vor kurzem in die Gegend gezogen und wanderten nun, auf der Suche nach neuen Freunden, mit Weinbrandflaschen und vielfarbigen Blumensträußen bewaffnet, die sommerlich leere Vorortstraße entlang. Einmal bat Bellmann sie ins Haus, wo sie mit großer SelbstverständlichkeitBlumenvasen verrückten und Lampen ein- und ausschalteten, als sei es ihre Aufgabe, das ordnungsgemäße Funktionieren der nachbarlichen Lichtquellen zu prüfen. Während Bellmann einen Kaffee aufsetzte, wanderte das Paar ziellos, wie mäßig interessierte Museumsbesucher, im Haus herum, bis die Frau mit einem Lachen, das große Zähne entblößte, der Tischlampe im Wohnzimmer einen leichten Schlag versetzte, aufjubelnd: »Die haben wir auch! Im Badezimmer!«
Manchmal blieb der Postbote auf
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