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Fahrtenbuch - Roman Eines Autos

Fahrtenbuch - Roman Eines Autos

Titel: Fahrtenbuch - Roman Eines Autos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Niklas Maak
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Cockerspaniel davon ausging, dass ihm das Fressen in seinem Napf und seine Lieblingskekse naturgemäß zustünden, und alle gegenteiligen Ansichten mit Knurren und Entgeisterung quittierte, war er überzeugt davon, dass es ein großes Unrecht darstelle, ihm einfach kein Geld mehr zu geben. Er konnte sich nicht im Ernst vorstellen, von selbstverdientem Geld leben zu müssen – ganz so, wie es für einen Adligen des Jahres 1787 undenkbar schien, dass man ihm die Ländereien, auf denen schon seine Urvorsassen hockten, mitsamt allen Schlössern und Privilegien einfach unter dem Hintern wegziehen und seinen Kopf auf der Place du Carrousel in einen Bastkorb werfen würde.
    Jan-Hendrik war der Ansicht, dass er mit der Eröffnung eines Büros und einer liebevoll gestalteten Website, auf der die Ausschmückung seiner Biografie und das Register der Fotografien des Firmeninhabers (Jan-Hendrik auf der Yacht seines Freundes, Jan-Hendrik beim Skifahren in Klosters, Jan-Hendrik bei einem Junggesellenabschied im Hasenkostüm) den größten Raum beanspruchten, genügend guten Willen bewiesen hatte, Geld zu verdienen, und dass ihm daher ein moralisches Recht auf ungehinderten Zugang zu den familiären Finanzreservoirs zustehe.
    Nach einem Streit mit seiner Mutter hatte er sich zu einem Psychotherapeuten begeben, der ihn in seiner Ansicht bestärkte und gleichzeitig eine komplizierte, langwierige und kostspielige Psychoanalyse verordnete, um frühkindlichen Traumata auf die Spur zu kommen, die sein erfolgreiches Berufsleben verhinderten.
    Während der Therapie empfahl der Psychotherapeut ihm jedoch, sich von seiner übermächtigen Mutter zu lösen. Sie habe ihn vernachlässigt, fand er nach einem sehr kostspieligen Jahr der Analysen und Gespräche heraus, und viel zu oft bei seinem Onkel abgegeben, um zu arbeiten; so gesehen sei es nur gerecht, wenn sie den ihm zugefügten Schaden wenigstens finanziell wiedergutmache.
    Weil seine Mutter ihn trotz allem liebte, übernahm sie auch die Therapiekosten und kaufte ihm eine Wohnung. Dafür ließ sich Jan-Hendrik zu Weihnachten mit aufwendigen Geschenken blicken, die er mit dem Geld seiner Mutter erstanden hatte.
     
    Wenig später kam es bei den Bergers zu dem erwartbaren Drama, das sich jedes Jahr wiederholte. Die Tante läutete die Weihnachtsglocke, die Ikea-Lichterkette warf ein feierliches Glitzern in den Raum, aus der Küche drang der schwere, winterliche Geruch einer Gans in Portweinsoße – dann aber erklang nicht, wie vom Onkel beabsichtigt, eine James-Last-Version von »Jingle Bells«, sondern die Stimme von Mike Krüger. Der Onkel hatte die falsche Kassette eingelegt. Hektisch wurde sie von der Tante wieder herausgenommen und der Onkel angeschrien, das sei mal wieder typisch, sie sage ihm seit Jahren, er solle die Kassetten beschriften. Der Onkel schrie zurück, dann solle sie doch ihren Scheiß alleine machen, der Tannenbaum wurde vorübergehend abgeschaltet, Kassetten wurden zur Probe eingelegt, vor- und zurückgespult, die Gans im Ofen bekam eine bedrohliche Solariumsbräune, der Onkel einen bedrohlich roten Kopf und eine Herztablette, schließlich wurde eine alte Vinylsingle mit Dean Martins »Let it Snow« aufgelegt.
    Am späteren Abend saß man am marmorierten Kamin der alten Villa und starrte leicht betrunken ins Feuer, während der Hund der Tante unbemerkt große Teile der auf dem Couchtisch geparkten Keksvorräte vertilgte und Simones Mutter am Flügel Chopins »Prélude Nr. 7« spielte. Gegen Mitternacht wurde Marillenschnaps gereicht, danach ging man zügig zu Bett.
     
    Ein paar Monate später – es war irgendwann im Sommer, sagt Berger, er erinnert sich nicht genau, wann – nahm er ein paar Tage frei und fuhr mit dem Mercedes in seine Heimatstadt.
    Er ging zu einem Kiosk, an dem er als Kind Süßigkeiten gekauft hatte. Der alte Besitzer, ein keuchender Wehrmachtsveteran, war offenbar gestorben, der Kiosk hatte neue Schilder, und die Frau, die dort bediente, war vielleicht zwanzig. Als er sein Abitur machte, war sie noch nicht einmal gezeugt worden. Er rief einen alten Lehrer an. Eine Viertelstunde später hatte er Solveigs Nummer.
    Solveig war inzwischen verheiratet und hatte drei Kinder. Als sie seine Stimme hörte, war sie erstaunt, aber sie freute sich. Sie wohnte jetzt in einem Reihenendhaus am Naturschutzgebiet. Sie hatte ein paar Falten bekommen, aber die Art, wie sie im Türrahmen lehnte und ihre Beine überkreuzte, war die gleiche geblieben, und wie früher

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