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Fahrtenbuch - Roman Eines Autos

Fahrtenbuch - Roman Eines Autos

Titel: Fahrtenbuch - Roman Eines Autos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Niklas Maak
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hinein.
    »Jochen! Hör mal! Wo bist du? Es gibt hier ein richtiges Problem. Tolkow hat, ohne dass wir das wussten …«
    Der Onkel zuckte zusammen und klammerte sich an den Karton mit den Kassetten. Er war schwerhörig, aber diese Stimme war sogar ihm zu laut. Berger fummelte verzweifelt an seinem Bluetooth-System herum und konnte gerade noch einem einscherenden Bus ausweichen.
    »Wo kommt das jetzt her? Ist das das Navigationssystem oder was?«, krähte der Onkel und bohrte seinen Zeigefinger in Bergers Kopfstütze.
    »Das ist die Freisprechanlage«, sagte die Tante.
    »Das ist ja irrsinnig laut«, brüllte der Onkel. »Was will die Frau?«
    »Jochen, wo bist du, auf der Straße oder wo? Wir haben ein richtiges Problem hier«, rief Janna Bissheimer jetzt noch lauter in ihr Telefon. »Können wir jetzt mal reden? Ich höre die ganze Zeit nur so einen Bekloppten im Hintergrund.«
    Der Onkel schaute ungläubig hinter der Kopfstütze hervor. »Hat die mich eben bekloppt genannt?«
    »Nein«, rief Berger hektisch in Richtung Onkel.
    »Es wäre sehr wichtig, auch für dich, wenn du jetzt vielleicht …«, schrie Janna Bissheimer in den Hörer.
    »Ich rufe dich zurück«, brüllte Berger und legte auf. Im Rückspiegel sah er das enttäuschte und misstrauische Gesicht der Tante.
     
    Zwei Stunden später – der Onkel sortierte seine Kassetten im Wohnzimmer, Mina telefonierte mit Jago, der bei einer Demo einer linken Splittergruppe verhaftet und seinen Eltern von der Polizeizurückgebracht worden war, Berger schmückte mit Karl den Tannenbaum, Simone machte Yoga, um den Abend psychisch durchzustehen – kam Simones Mutter aus ihrem Villenvorort angereist. Sie beklagte mit gespielter Bestürzung das unvorweihnachtliche Chaos in Bergers Wohnung und bot an, die Kinder zu nehmen, damit er und Simone alles für Heiligabend fertig machen könnten. Es war die typische, alsHilfsangebot verkleidete Kombination aus Vorwurf und Aufforderung, mit der Simones Mutter ihre Tochter malträtierte, seit sie das Haus verlassen hatte; natürlich lehnte Simone den Vorschlag ab, und natürlich gab es Streit.
    Berger zog sich mit seinem Laptop in eine Ecke zurück und schaute sich die im Bodenlosen versinkende Kurve des Baltic Dry Index für Frachtgüterverschiffung an. Als er begonnen hatte, mit Schiffsfonds zu handeln, lag der BDIU bei über 10.000 Punkten, aber dann war er ausgerechnet am 11. September 2008 unter die 5000-Punkte-Marke gesackt, hatte im Oktober die 1000-Punkte-Grenze durchschlagen und landete im Dezember bei erbärmlichen 700 Punkten, das entsprach einem Rückgang um über neunzig Prozent.
     
    Die Tante schlug vor, man solle zusammen zum Krippenspiel gehen; das Krippenspiel, erklärte sie energisch, sei eine sehr schöne Tradition, gerade für den kleinen Karl, und weil ihnen keine Ausrede einfiel, gingen sie hin.
    Die Kirche war vollkommen überfüllt. Im Gang und vor dem Altar saßen Kinder und Eltern, die keinen Platz mehr gefunden hatten, in den hinteren Reihen als gute Väter verkleidete Väter, die er auf einem Elternabend in Karls Kindergarten gesehen hatte; einer erkannte ihn und nickte ihm schwach zu.
    Karl drängte ganz nach vorn an die Bühne in eine Gruppe von etwa dreißig zwei- bis fünfjährigen Kindern; Mina setzte sich links vor den Altar auf den Fußboden und begann, eine SMS an Jago zu schreiben. Die Musik setzte ein, der Pfarrer trat auf die Kanzel.
    »Könnten Sie sich bitte hinsetzen«, zischte eine rotgesichtige Mutter von hinten; auf ihrem Schoß saß, wie er feststellte, als er sich umdrehte, ein dickes Kind, das nichts sehen konnte. Berger hockte sich zwischen die Kinder auf den Boden.
    »Wir wollen beten«, sagte der Pfarrer. Die Gemeinde erhob sich; Berger blieb hocken und versuchte, Karl davon abzuhalten, unter die Bühne zu kriechen. Die rotköpfige Frau schaute ihn tadelnd an. Sie hielt die Hände gefaltet und starrte unverwandt in seine Richtung.Simone stand mit verschränkten Armen neben ihrer Mutter am Rand und betrachtete das goldene Kreuz, das an zwei Stahlseilen im Flutlicht gigantischer Scheinwerfer schimmerte. Berger versuchte, sich für einen Moment aufzurichten. Das dicke Kind krähte »Kopf runter«. Berger zog den Kopf ein und warf dem Kind einen hasserfüllten Blick zu. Hinter sich hörte er einen melodischen Dreiklang, Lautstärkeeinstellung »Draußen«; Mina hatte eine SMS bekommen.
    Dann begann die Aufführung. Maria und Josef betraten die Bühne und beklagten mit einer

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