Fahrtenbuch - Roman Eines Autos
ausdrücken könne. Die Therapeutin lächelte metallisch und sagte, dies sei sicherlich eine sehr schlagfertigeBemerkung, aber der falsche Moment für Beweise seiner Rhetorik. Stattdessen müsse er lernen …
Sie verzichteten darauf, noch einmal wiederzukommen.
Es wurde Dezember.
Berger begleitete eine Wirtschaftsdelegation nach Dongguan und Schanghai; ein Studienfreund von ihm, Sprecher eines wirtschaftspolitischen Arbeitskreises im Bundestag, hatte ihn eingeladen. Die Teilnehmer waren Männer mittleren Alters, die sich nur durch ihren Krawattengeschmack unterschieden; sie hatten die gleichen schwarzen Rollkoffersets, die gleichen anthrazitfarbenen Anzüge, die gleichen Blackberrys und die gleichen, scharf auf Linie geföhnten Frisuren. Sie fuhren an Baustellen, Schulen und Fabriken vorbei, schüttelten Hände, saßen in Konferenzräumen, betrachteten Flipcharts, begrüßten andere Delegationen und bekamen fettiges Essen serviert. Durch die getönten Scheiben des Busses, der sie vom einen Termin zum anderen transportierte, sahen sie die glänzenden abstrakten Skulpturen, die in Dongguan zur Erbauung der Arbeiter auf jedem Verkehrskreisel standen. Sie gingen auf das Dongguan International Beer Festival und dann, in Schanghai, in den Paulanerkeller. Vier schmale Chinesinnen in zu großen Dirndln servierten Bierhumpen, es gab Serviettenknödel und Oktoberfestmusik, dazu lief Anton aus Tirol ; die Chinesen klatschten begeistert in die Hände. Am nächsten Morgen empfing eine Abordnung der örtlichen Bezirksregierung die Delegation. Der Staatssekretär bedankte sich bei seinen Gastgebern. Er beugte sich zu seinem Übersetzer und lobte das rasante Tempo, die beeindruckenden Fortschritte, die Effizienz der Industrieanlagen; der Dialog, schloss er, sei nun das Wichtigste. Die Chinesen verneigten sich leicht und verschränkten die Hände.
Weil auch ein paar Journalisten mitgekommen waren und im Anschluss an die Vertragsvorbereitungen eine Pressekonferenz stattfinden sollte, erklärte der Staatssekretär, er müsse allerdings auch betonen, wie wichtig ihm und den Investoren aus Deutschland, die hier zu produzieren gedächten, die – hier machte er eine kleine Pause –weitere Verbesserung der Arbeitsbedingungen sei, man wolle dies gern aktiv unterstützen, und die Menschenrechte müsse er auch ansprechen; das habe er hiermit getan. Die Chinesen saßen auf ihren Stühlen und lächelten eisern. Danach zog man sich zu Beratungen und Verhandlungen über diverse Kooperationsprojekte zurück.
Später, bei der Pressekonferenz, fragten die Journalisten, ob man auch über die Arbeitsbedingungen und die Frage der Menschenrechte gesprochen habe. Der Sprecher des Staatssekretärs antwortete, der Staatssekretär habe noch einmal persönlich in angemessener Form betont, wie wichtig der Regierung diese Frage sei. Berger war beeindruckt.
Am Morgen des 24. Dezember bat Simone ihn, ihren Onkel und ihre Tante vom Hauptbahnhof abzuholen. Als er ankam, erkannte er die beiden schon von weitem; die Tante zog, unduldsame Blicke in verschiedene Richtungen werfend, zwei Rollkoffer hinter sich her; der Hund, ein träger, in der Mitte durchhängender Cockerspaniel, schlurfte ergeben neben ihr her. Der Onkel trug einen grauen Blouson und bewegte sich mit kleinen Schritten Richtung Ausgang; er hielt mit beiden Händen einen Karton umklammert. Wie jedes Jahr hatte er fast die ganze Adventszeit damit verbracht, die vorweihnachtlichen Sendungen im Nachmittagsprogramm des lokalen Oldie-Senders auf seinem uralten Doppelkassettendeck mitzuschneiden und die besten Titel zu zwei Bändern zusammenzustellen, die an Heiligabend als Hintergrundmusik laufen sollten. Der Onkel war im zerrüttetenfamiliären Gefüge so etwas wie der Zeremonienmeister des Heiligen Abends, aber er war schlecht organisiert. Am 23. Dezember lagen rund ein Dutzend Kassetten auf seinem Schreibtisch herum, deren beste Titel er auf zwei Bänder überspielen wollte, aber leider beschriftete er seine Kassetten nie, so dass bei der Bescherung oft das falsche Band eingelegt wurde.
Im Auto nahmen der Onkel und die Tante auf der Rückbank Platz. Der Onkel reckte den Kopf links an der Kopfstütze vorbei und schaute misstrauisch auf den Verkehr. Während der Fahrt rief Janna Bissheimer an; Berger versuchte, die Freisprechanlage abzuschalten, erwischteaber irgendeinen Bluetooth-Knopf nicht, und eine Sekunde später schallte Jannas Stimme wie ein Strafgericht Gottes in den Wagen
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