Fahrtenbuch - Roman Eines Autos
der Rückenlehne befestigt war. Der Stuhl stand dort wie ein stummer Vorwurf, ein Immigrant unter den vier eleganten weißen Plastikblasen, die als moderne Möbelfamilie das Wohnzimmer besiedelten. Nur seine Mutter konnte diesen Stuhl so vorwurfsvoll in den Flur stellen.
Seine Mutter bewohnte ein Zimmer am Ende des Korridors. Es war im Stil einer Bauernstube des 19. Jahrhunderts eingerichtet und wurde von ihr energisch gegen alle Modernisierungsversuche verteidigt. Seine Mutter mochte den Bungalow nicht. Das Haus hat ja kein Dach , sagte sie, als sie ihn zum ersten Mal betrat, und die Antwort, dies sei ein Bungalow, und ein Dach habe er schon, nur eben ein flaches, ließ sie nicht gelten. Auch die Nachbarin, eine blutarme Person, die bei Regen eine Plastikfolie über den Kopf zog, damit ihre Frisur keinen Schaden nahm, beklagte bei jeder Gelegenheit das schachtelartige Aussehen des Nachbarhauses, das mit seiner ausgefallenen Form Unordnung in die Siedlung bringe.
Er musste jetzt rauchen. Er öffnete eine neue Schachtel Ernte 23 und ging ein paar Schritte durch den Garten. Die Bäume am Zaun wuchsen in einem unsympathischen Durcheinander in die Höhe. Die Kühe, die hinter dem Zaun weideten, hatten, als die Pflanzen noch klein waren, die Äste weggefressen; mit den Bäumen waren auch die Bisswundengewachsen und bildeten jetzt unschöne Löcher in der Silhouette. Die Bäume waren ein Ärgernis, sie standen krumm und unentschlossen dort, als wären sie unter Alkoholeinfluss gewachsen; man müsste, dachte er, die Bäume absägen. Er hatte sie schon öfter entfernen lassen wollen, aber seine Frau war abergläubisch, außerdem würde er ohne die Bäume wieder in die Gesichter der Kühe schauen müssen, die, als die Bäume klein waren, stundenlang am Zaun standen und in sein Wohnzimmer starrten, als sei sein Leben eine Unterhaltungssendung für Nutztiere.
Der Sommer, in dem er seinen Mercedes bestellt hatte, der Sommer 1971, war der heißeste und trockenste Sommer seit Jahrzehnten gewesen. Die US-Armee versuchte vergeblich, in Kambodscha den Versorgungsweg der nordvietnamesischen Truppen zu zerschlagen, der Fernseh-Delfin Flipper starb an Herzversagen, auf Antrag der SPD diskutierte der Bundestag die Liberalisierung der Gesetzesvorschriften für Pornografie, in Düsseldorf gründeten dreihundert FDP-Mitglieder unter Leitung des ehemaligen Waffen-SS-Mitglieds Siegfried Zoglmann die »Deutsche Union«. Es war der Sommer, in dem der Diktator Nicolae Ceau ş escu von Gustav Heinemann das Bundesverdienstkreuz überreicht bekam und die mutmaßliche, gerade mal zwanzigjährige Terroristin Petra Schelm in Hamburg erschossen wurde. In London demonstrierten dreißigtausend Menschen gegen »moralische Verschmutzung« und für »Reinheit, Liebe und geordnetes Familienleben«, das größte Radioteleskop der Welt empfing Signale aus zwölf Milliarden Lichtjahren Entfernung, mit denen aber keiner etwas anfangen konnte. Es war offensichtlich einiges durcheinandergeraten in der Welt, und dieses Durcheinander, so kam es Bellmann jedenfalls vor, schien auch auf sein Privatleben überzugreifen.
In diesem Sommer war seine Frau oft ausgegangen und schließlich für ganze Tage verschwunden. Tagsüber war es heiß; einige Bäche waren über die Monate ausgetrocknet, in den Küchen brummten die Sommerfliegen, nachmittags gab es Wärmegewitter; dieHöchsttemperaturen, teilte eine schnarrende Stimme im Radio mit, lagen bei dreißig Grad. Er bestellte sich den Mercedes; im Dezember wurde er ausgeliefert, im Frühjahr fuhr er zum ersten Mal offen, dann kam der Sommer 1972, aber von diesem Sommer bekam er wenig mit.
Die Tage verbrachte er im Neonlicht seines Sprechzimmers im Krankenhaus, wo ihn ein Lamellenvorhang und die Blätter eines unkontrolliert wuchernden Gummibaums von der Außenwelt abschirmten. Am Abend stieg er nur kurz in den Pool, der den hinteren Teil des Gartens in ein flimmerndes, blaues Licht tauchte; die meiste Zeit verbrachte er in seinem Atombunker.
Der Atombunker lag unten im Keller des Bungalows. In dem Jahr, in dem das Haus gebaut wurde, war das Schutzbaugesetz erlassen worden, und er hatte, entsprechend den »Richtlinien für die Gewährung von Zuschüssen des Bundes bei Errichtung von Hausschutzräumen« zweihundertzwanzig Mark pro Schutzplatz bekommen, was bei sechzehn Plätzen nicht einmal viertausend Mark machte – aber Ingrid hatte einen Atombunker haben wollen.
Man musste zwei Kilometer vom
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