Fahrtenbuch - Roman Eines Autos
den Brücken gebaut hatten, und sah Hunderte von erleuchteten Fenstern, hinter jedem Fenster ein Mensch, eine Geschichte, eine unbekannte Person.
Diese Menschen kamen aus kleinen Dörfern, hatten eine diffuse Vorstellung vom Glück, zogen in die Türme, suchten einen Job, rasten mit zu kleinen Autos über Autobahnen, gerieten ins Schleudern, betranken sich in winzigen Wohnungen, gingen im Hafen aus, gründeten Familien, kauften Weihnachtsbäume, aßen Bratwurst und falschen Hasen, versuchten zu vergessen, tanzten mit Fremden, schliefen mit den Falschen, ließen Sachen in fremden Wohnungen liegen, hockten an quadratischen Fenstern und hörten traurige und wütende Lieder und hofften und starrten in die Nacht, die ihnen aus Tausenden anderer Fenster entgegenleuchtete. Und sie bekamen Bauchschmerzen, Blinddarmentzündungen, Juckreiz, sie brachen sich Arme und Beine und das Nasenbein. Und dann kamen sie zu ihm.
Was sah er, als er damals im Stau stand? Autos, in denen Paare saßen, die Beifahrer und Beifahrerinnen links von ihm zum Greifen nah, keine zwei Meter entfernt.
Natürlich ließ Bellmann nie das Fenster herunter, und nie sprach er jemanden an (es ist, anders als im Café, fast unmöglich, sich in einem Stau kennenzulernen), aber das, was er vor und neben sich hinter Auto- und Wohnungsfenstern erahnte oder sah, setzte den Gedanken in ihm fest, dass es neben seinem eigenen Leben dort draußen noch Hunderte, Tausende anderer Leben gab, in die er einfach einsteigen könnte wie in das Auto eines Fremden.
Als er an diesem Tag nach Hause kam, war es dunkel. Er öffnete den Kühlschrank und machte sich einen Drink. Draußen trieben ein paar Schneeflocken vorbei, im Wohnzimmer roch es nach Holz undWärme, ein paar verkohlte Scheite lagen im Kamin; offenbar hatte Ingrid, bevor sie gegangen war, ein Feuer gemacht.
Er hatte Phyllis im Krankenhaus kennengelernt. Sie war Ärztin, ein paar Jahre jünger als er und über irgendein Austauschprogramm nach Deutschland gekommen. Jetzt war sie, wegen Thanksgiving und einer Hochzeit, einen Monat lang in New York.
Er machte sich, nachdem er, wie er erst jetzt merkte, seinen ersten Drink in einem Zug ausgetrunken hatte, noch einen zweiten und schaute sich in seinem Haus um wie ein erstaunter Archäologe. Im Foyer schwebten drei angriffsbereit aussehende, helmförmige Plastiklampen. An der Wand hingen Bilder mit abstrakten roten Formen auf gelbem und braunem Grund, Werke eines befreundeten Malers, daneben Familienfotos: seine Mutter in Neapel mit einem italienischen Strohhut auf dem Kopf; Ingrid auf einem Pferd, Ingrid auf einem Sofa, Ingrid auf einer norditalienischen Steinmauer, er selbst auf dem Campo dei Fiori (Eistüte in der Hand, schwarze Sonnenbrille, Chefarztlächeln); Ingrid in einem leichten sandfarbenen Sommerkleid, aufgenommen bei ihrer Hochzeitsreise auf einem Vaporetto in Venedig, 1962. Als die Schiffe mit den russischen Atomraketen Kurs auf Kuba nahmen, als die Welt um ein Haar mit einem gigantischen Knall in die Luft geflogen wäre und die Bundesregierung Toastbrot und Wurst für mehrere Monate in ihrem Atombunker irgendwo bei Bonn einlagern ließ, saßen er und Ingrid auf einem verrosteten Kahn und fuhren von San Marco hinüber zum Hotel des Bains und hatten allerbeste Laune.
Etwas war in diesem Haus nicht in Ordnung. Die Wand hatte seltsame Flecken. Die Fotos waren, bei genauem Hinsehen, ausgebleicht. Dort, wo die Mittagssonne auf eines der Bilder fiel, war nur noch ein Schatten zu sehen; dieser Schatten war einmal er gewesen.
Er drehte sich um und betrachtete die Fensterscheiben. Ingrid hatte aus schwarzem Papier die Silhouetten von Vögeln ausgeschnitten und an die große Panoramascheibe geklebt, damit keine echten Vögeldagegenflogen, aber jetzt fielen die Schatten der falschen Vögel auf den Boden und auf das Sofa, so, als kreisten Geier an der Decke seines Wohnzimmers. So war das Wohnzimmer nicht bewohnbar. Er riss zwei Pappvögel von der Scheibe und stellte fest, dass sie mit Uhu auf die Fenster geklebt worden waren. Pappvögel, mit Uhu direkt auf die Scheibe geklebt!
Er verließ, leicht schwankend, mit einem dritten Drink in der Hand, das Wohnzimmer und betrat den Flur. Dort stand, zwischen einem polierten Stahltisch und einer orangefarbenen Stehlampe, etwas, das hier nicht hingehörte, ein schiefer, uralter Bauernstuhl, ein wackeliges Ding mit einem in die Lehne gesägten Herz und einem abgeschabten roten Kissen, das mit Fäden an
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