Falkengrund Nr. 30
Schülerin werden sollen – und mögen –, doch der Anblick der von Käfern überfluteten Charmaine hatte die damals 17-jährige zur überhasteten Flucht getrieben. Von den frühen Morgenstunden bis zur Mittagszeit war sie ziellos durch die Wälder geirrt und hatte entkräftet und noch immer halb wahnsinnig von ihrem Erlebnis Wolfach erreicht.
Sicher hatten sich mittlerweile mehr Schüler gefunden, morbidere, kränkere Menschen als sie es war, solche, die an Charmaines eigenartigen Neigungen und Fähigkeiten Gefallen fanden. Und Erwin, von dem es hieß, er wolle mithilfe des Okkulten die Weltherrschaft erlangen, hatte in der Zwischenzeit zweifellos das eine oder andere hässliche Kunststück gelernt. Vielleicht vermochte er jetzt Regen zu machen oder Tote zum Leben zu erwecken.
Denn dass auf Falkengrund tatsächlich so etwas wie echte, wahrhaftige Zauberkunst vermittelt wurde, stand spätestens seit heute außer Zweifel. Der Käfer in ihrem Zimmer hätte ein Zufall sein können, aber nicht die Schrift im Buch, der magische Hilferuf des Samuel Rosenberg.
Samuel hatte vom Herrn des Hauses gesprochen. Wen meinte er damit?
Konrad Winkheim, den Leiter der Schule? Oder doch den Geist des Barons von Adlerbrunn, der angeblich hier spukte?
Natürlich hätte Edeltraud die Polizei verständigen müssen, anstatt selbst (und auch noch alleine) diesen Ort aufzusuchen. Aber was hätte sie den Beamten erzählen sollen? Ihr wäre nichts übriggeblieben als um die übersinnliche, nicht vermittelbare Buch-Botschaft herum ein komplexes Lügengebäude aufzubauen, das sie am Ende beim Einsturz selbst unter sich begraben hätte.
Die Eingangshalle sah anders aus als in ihrer Erinnerung. Das Licht pochte, als wäre dies alles ein großes, unregelmäßig schlagendes Herz. Hatte die Halle vor zwei Jahren noch Ruhe und Leere ausgestrahlt, war sie jetzt angefüllt mit … ja, womit eigentlich?
In dem Raum zwischen den beiden Treppen lagerten in schwerfälligen Eisenregalen technische Bauteile, über deren Sinn und Zweck sie nur mutmaßen konnte. Ob sie zu Dampfmaschinen oder in diese neuen Automobile gehörten, die kluge Herren wie Benz, Daimler und Maybach in den letzten Jahren entwickelt hatten, blieb ihr verborgen. Auf einem Tischchen neben einem kleinen Fenster standen immerhin zwei Geräte, die sie zu erkennen glaubte – ein riesiges gusseisernes Telefon und gleich daneben ein viel kleineres Morsegerät, das im Wesentlichen aus einer Holzkiste mit einer Metalltaste bestand. Jetzt sah sie auch, woher das Flackern rührte: An den Wänden neben den alten Petroleumlampen brannten Leuchten von anderer Art: elektrisches Licht! Es leuchtete unruhig und verlöschte zwischendurch ganz, doch wenn es aufglomm, entwickelte es für kurze Zeit eine gleißende, nahezu unerträgliche Helligkeit.
Edeltraud schirmte ihre Augen mit dem Oberarm ab. Was für ein schrecklicher, fremdartiger Ort! Man kam sich vor wie in einem Labor oder, schlimmer noch, wie an einem jenseitigen, halb höllischen, halb irdischen Ort.
Die Technik hatte auf Falkengrund Einzug gehalten, auf höchst unangenehme Weise.
Sofort hatte sie Konrad Winkheim im Verdacht. Als ehemaliger Illusionist musste er eine Schwäche für moderne Apparaturen und technische Spielereien haben. Was er hier aufgebaut hatte, war widerlich und nervenaufreibend.
Während sie den Blick zu Boden gerichtet hielt, um möglichst wenig geblendet zu werden, nahm sie die linke der beiden Treppen nach oben. Sie bewegte sich leise, und ihre Schuhe erzeugten auf den hölzernen Stufen nur den Hauch eines Geräuschs. Glücklicherweise brannten im 1. Stock nur plumpe, altmodische Petroleumleuchten, davon allerdings nur eine in jedem der Flure, die sich zu beiden Seiten hin erstreckten. Die Korridore lagen in tiefen Schatten, Schatten, die ungeduldig zu zucken schienen, wenn unten das elektrische Licht schwankte. Wo kam eigentlich der Strom für diese scheußlichen Lampen her? Schramberg und Wolfach waren noch nicht ans Stromnetz angeschlossen, ein abgelegenes Haus wie dieses erst recht nicht. Verfügte Schloss Falkengrund etwa über einen eigenen Generator?
Elektrizität war Edeltraud – wie den meisten Menschen, die sie kannte – höchst suspekt. Diese lautlose, unsichtbare, kalte Energie, die unbemerkt nahezu überall lauern konnte und einen zu töten vermochte, sobald man sie spürte, erschien ihr unnatürlich und gefährlich. Blitze gehörten an den Himmel und nicht ins Innere menschlicher Behausungen,
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