Falkengrund Nr. 30
das war ihre Meinung.
Sie hatte allerdings das Gefühl, dass hier niemand sein würde, der ihre Meinung hören wollte.
Wo hielten sich die Leute überhaupt auf? Sie hörte keine Geräusche, keine Stimmen, keine Schritte, kein Stühle-Rücken, kein Klirren von Geschirr. Abgesehen von den klickenden Lauten, die die Elektrizität in der Halle verursachte (und die hier oben kaum zu vernehmen waren) herrschte Stille.
Totenstille.
Der Herr von Schloss Falkengrund tötet uns alle.
Edeltraud lief es eiskalt über den Nacken, und als die Gänsehaut erst einmal da war, ging sie nicht wieder weg, krallte sich fest wie ein unsichtbares Tier. Wie eilig war Samuels Hilferuf gewesen? Wenn das, was er vorhersagte, direkt nach der übernatürlichen Botschaft eingetreten war, dann kam sie einige Stunden zu spät. Dann waren die Bewohner des Schlosses längst tot – mit Ausnahme des Hausherrn.
Noch immer verharrte sie am oberen Ende der Treppe. Soweit sie es von ihrer Position aus zu erkennen vermochte, waren alle Türen geschlossen.
Würde sie beim Öffnen schreckliche Entdeckungen machen? Lagen Leichen dahinter, vielleicht in jedem Zimmer eine?
Sie stellte sich Konrad Winkheim als mehrfachen Mörder vor. Dann malte sie sich aus, der Geist des Barons hätte alle Bewohner niedergemetzelt, Konrad inklusive. Es wunderte sie selbst, wie sie noch hier im Halbdunkel stehen konnte, im Bewusstsein, vielleicht mit einem irdischen oder überirdischen Mörder alleine zu sein. Woher hatte sie den Mut geschöpft, überhaupt herzukommen? Woher bezog sie ihre Energie? Wo verliefen ihre Stromleitungen, was verbrannte ihr Generator?
Gib’s zu, Traudchen, es ist die Neugier, nichts als die Neugier. Falkengrund hat dich einst verjagt, aber jetzt willst du noch einmal genauer hinschauen. Ein neues Grauen mit eigenen Augen sehen.
Sie trug eine mittelgroße Reisetasche aus braunem Leder bei sich. Neben etwas Wechselwäsche lag ein Küchenmesser darin, das größte, das sie in der Küche aufgetrieben hatte, beinahe so lang wie ihr Unterarm. Ehe sie sich davonstahl, hatte sie es heimlich geschliffen und in ein Tuch gehüllt.
Edeltraud glaubte nicht, dass Konrad Winkheim einen Menschen zu töten vermochte. Schon gar nicht seinen Gönner Samuel, diesen freundlichen, zurückhaltenden jungen Mann, der ihm Falkengrund quasi als Freundschaftsgeschenk gekauft hatte. Aber sie konnte sich auch schwer vorstellen, dass ein Geist, der die Menschen drei Jahre lang hier geduldet hatte, plötzlich Amok lief und Jagd auf sie machte. Außer man gab ihm einen Anlass. Ging es um Charmaine? Interessierte sich Samuel für die hübsche Französin, oder machten ihr die Schüler von Falkengrund schöne Augen? Oder der Baron? Eine einzige Frau, noch dazu eine so attraktive, unter mehreren Männern – musste das nicht zwangsläufig zu Problemen führen?
Edeltraud öffnete zwei Knöpfe an der Reisetasche, nahm das Messer hervor, packte es aus und hielt es eng an ihren Körper gepresst, damit es nicht gleich sichtbar war, falls sie jemandem begegnete.
Oder falls jemand sie aus dem Halbdunkel heraus beobachtete.
Traudchen, mein Kind, jetzt hast du den ganzen Weg zurückgelegt, ohne Muffensausen zu bekommen, nun musst du auch die letzten paar Schritte noch gehen. Türen öffnen. In die Zimmer sehen.
Sie wandte sich in den linken Flügel und probierte es mit dem ersten Raum zur Rechten. Als Dienstbotin war es ihr in Fleisch und Blut übergegangen, anzuklopfen, ehe man ein Zimmer betrat, und ihr Fingerknöchel war schon auf dem Weg, da stoppte sie die Bewegung. Legte das Ohr an die Tür und lauschte. Nichts. Kein Geräusch. Sie drückte die Klinke langsam und praktisch lautlos herunter.
Die Tür klemmte. Edeltraud lehnte sich dagegen. Nein, da klemmte nichts, die Tür war vielmehr verschlossen.
Die nächste. Wieder lauschte sie zuerst. Diesmal glaubte sie etwas zu hören, aber es war zu schwach, um sicher sein zu können. Ein leises Rattern vielleicht, dazu ein hohes, kaum hörbares Quietschen. Mechanische Geräusche, keine menschlichen. Lief im Zimmer eine Maschine?
Als sie Klinke probierte, blieb sie wieder ohne Erfolg. Auch dieses Schloss war verriegelt. Warum schloss man all die Türen ab, wenn hier nur Schüler und Lehrer wohnten? Falls man Dinge von Wert hier aufbewahrte und Diebe von außerhalb fürchtete, tat man dann nicht besser daran, das Hauptportal zu verriegeln anstatt jene einzelne Tür?
Hier verbarg jemand etwas vor den anderen Bewohnern.
Die
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