Falkengrund Nr. 30
war er selbst es gewesen, der die Zeitreise organisiert hatte – allerdings, ohne sein früheres Ich davon wissen zu lassen.
Gut zweihundert zusätzliche Jahre hatte Sir Darren gelebt, hatte Nordamerika und Europa bereist und mit eigenen Augen mehr Dinge gesehen als je ein Mensch vor ihm. Jetzt, wieder zurück in seiner regulären Zeit, schien er plötzlich wieder auf einer Bühne zu stehen. Was war seine Rolle in diesem modernen Theaterstück, in dem Hitler als Arzt auftrat und ein pferdefüßiger, gehörnter Satan im Sterben lag?
Er drängte sich durch die Sitzenden hindurch bis zur Mitte der Reihe. Dabei zwang er sich, die Wesen genau zu mustern, die ihm begegneten. In einigen glaubte er Menschen aus der Geschichte zu erkennen, berühmte Feldherren, Politiker. Bei einem war er ganz sicher, dass es sich um einen Serienmörder handelte, dessen Bild vor Jahren durch die Zeitungen gegangen war, aber er kam nicht auf seinen Namen.
Tatsächlich gab es einen freien Platz. Und daneben saß ein Mann, den er sehr gut kannte.
Er war von außergewöhnlich kleinem Wuchs, hatte weiche Züge, sanfte, aber energiegeladene Augen und einen schmalen Mund. Er steckte in einer prachtvollen schwarzweißen Uniform voller goldener Knöpfe, behangen mit Orden.
„Endlich, mon ami !“, rief er und schob den Dozenten auf den leeren Stuhl. Sein Nachbar auf der anderen Seite war ein schuppiges Wesen mit einem schweren Echsenschädel, der fast nur aus einem riesigen Maul bestand.
„Napoleon“, flüsterte Sir Darren. „Napoleon Bonaparte …“
„Aber natürlich! Dachtest du, ich würde mich oben in Arbeit vergraben, ohne dem alten Knaben die letzte Ehre zu erweisen?“
„Das … ist ein Begräbnis?“ Sir Darren nahm sich vor, nicht zu viele Fragen auf einmal zu stellen. Daher erkundigte er sich nicht, welche Arbeit der Feldherr meinte und was er unter oben verstand. „Ich habe keinen Sarg gesehen.“
„Der Sarg kommt jeden Augenblick“, klärte ihn Napoleon auf. „Man erzählt sich, er war noch nicht ganz tot. Bis zum letzten Moment sah es so aus, als würde ihn die Medizin noch retten können. Glücklicherweise sind auch den Ärzten gewisse Grenzen gesetzt …“
„Wer ist er ?“
Napoleon lächelte ihn erstaunt an. „Na, Luzifer natürlich, Satan, der alte Herr der Hölle. Wo warst du, dass du nichts von seinem … Unfall gehört hast?“
Sir Darren antwortete nichts. In diesem Moment wurde von der Decke ein Sarg herabgelassen. Es war ein kitschiges schwarzes Ding, voller blumiger Jugendstilornamente aus Silber. Irgendwie hatte der Sarg etwas von einer Harley Davidson an sich. Außerdem lag ein gewaltiges, geschmackloses Gebinde aus weißen Lilien auf dem Deckel. Durch das Ruckeln beim Herablassen rutschte es immer mehr zur Seite, glitt schließlich herab und fiel klatschend in den freien Raum vor dem Altar. Ein Teil des Gebindes traf die Trauergäste in der ersten Reihe, und ein kleiner Tumult entstand, bis sie sich daraus befreit hatten.
„Wir sind in der Hölle, nicht wahr?“ Der Dozent nutzte die Chance, einen Gesprächspartner zu haben. So wirr das alles war, er war sicher, es geschah nicht völlig ohne Sinn. Irgendwo hinter dem merkwürdigen Spektakel gab es eine Logik, eine Bedeutung. Diese musste er finden. Er versuchte, das alles als großes Rätsel zu betrachten.
„In einem Stück Himmel in der Hölle, en quelque sorte “, schmunzelte Napoleon. „Ein Gotteshaus mitten im Inferno. Diese Kirche ist einzigartig. Du kannst dir nicht vorstellen, welche Kosten sie verschlingt. Aber wir wollen ja nicht, dass seine Seele noch einmal in der Hölle wiedergeboren wird. Also braucht er eine anständige christliche Bestattung, n’est-ce pas ?“
Der Sarg erreichte nun den Boden. Er lag auf den Lilien. Aus dem Inneren der Totenkiste drang ein leichtes Pochen, dazu ein Rumpeln.
„Er ist nicht ganz tot“, sagte Sir Darren atemlos. Das Bild des animalischen Wesens mit dem aufgeschlitzten Bauch blieb vor seinem inneren Auge stehen. Es erinnerte ihn an den bösen Wolf aus dem Märchen vom Wolf und den sieben Geißlein. Hatte der Arzt mit Hitlers Gesicht Satans Bauch mit Steinen gefüllt, damit er sich nicht aus dem Sarg befreien konnte? War das der Grund, weshalb er den Höllenfürsten überhaupt aufgeschnitten hatte?
So sehr er sich auch um innere Ruhe bemühte, das unglaubliche Szenario ängstigte ihn. Es mochte ein Mummenschanz sein, der um ihn herum ablief, aber das bedeutete nicht, dass er nicht in akuter
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