Falkengrund Nr. 30
waren es die Merkmale eines Ziegenbocks, die sich in das Menschengesicht mischten, doch die Mähne gehörte einem Löwen, die Zähne einem Pferd oder Esel, die Kieferpartie einer Hyäne und die Augen einem Raubvogel. Wenn man das Gesicht zu fixieren versuchte, entglitt es einem, veränderte sich ein wenig, doch niemals verlor es sein bestienhaftes Wesen.
Der Mann streckte sich. Unter dem Laken, das die Beine bedeckte, rutschten zwei Füße hervor, einer menschlich, einer behuft. Es fiel Sir Darren schwer, es wahrzuhaben, aber ein gewaltiges, schlangengleiches Etwas zuckte unter der Abdeckung. Er wusste nicht, ob er es als Schwanz oder Phallus interpretieren musste.
Der Mann, der mit geöffnetem Bauch vor ihm lag, war kein Mensch.
Es war der leibhaftige Satan.
4
Eine trübe weiße Haut schob sich von unten über die Adleraugen des Teufels. Aus seinem Maul rann ein dickflüssiger gelber Speichelfaden und verklebte die Haare, die das Gesicht umrahmten.
„Er stirbt“, drängte der Arzt. „Wenn wir ihn retten wollen, müssen wir schnell handeln.“
Und Sir Darren handelte schnell. Er versetzte dem Operationstisch einen Stoß, so dass er gegen den Arzt prallte. Die Sekunde, die er damit gewann, reichte ihm, um aus dem Raum zu fliehen. Das Skalpell, das er eigentlich in der Hand behalten wollte, entfiel dabei seinen Fingern, doch er nahm sich nicht die Zeit, es aufzuheben. Keuchend jagte er durch den Gang auf die Treppe zu.
Nein, das war kein Traum. In einem Traum hätte sich das Innere des Hauses ohne Zweifel längst verändert. Aus den offenen Türen wären neue Gefahren auf ihn zugestürmt, die Treppe wäre verschwunden gewesen, oder seine Beine wären schwer geworden, bis er nicht mehr vom Fleck kam. Doch die Zimmer hinter den Türen blieben leer, die Treppe war an ihrem angestammten Platz, und seine Beine trugen ihn zuverlässig hinunter.
Kein Traum , hämmerte es in seinem Schädel. Kein Traum. Der Arzt und sein Patient sind echt, Geister, Phantome, verdammt gute Verkleidungen oder was auch immer. Aber keine Hirngespinste.
Er erreichte das Erdgeschoss, wandte sich zum Ausgang.
Die schwere Tür knarrte unter seinem Ansturm, aber sie öffnete sich nicht. Er probierte die Klinke. Die Tür war abgeschlossen. Jemand war hier gewesen.
Sofort ging sein Blick zurück zur die Treppe. Dort befand sich niemand. Man schien ihn nicht zu verfolgen.
Die einzigen Fenster in Sicht waren zwei kleine Rechtecke an der Treppe – zu eng, um durch sie nach draußen zu gelangen. Nebenbei fiel sein Blick auf die Nierenschale, die noch immer auf der Theke der Rezeption stand. Jetzt enthielt sie nicht mehr nur eingetrocknete Reste einer brauen Flüssigkeit. Der Inhalt glänzte feucht wie das Innere des geöffneten Bauches, den er oben gesehen hatte. Was war die Pasewalk Clinic wirklich? Der Unterschlupf psychopathischer Mörder? Ein Spukhaus?
Oder der Eingang zur Hölle?
Er vergewisserte sich – die Türen in diesem Flur waren noch immer verschlossen, und zurück in den ersten Stock wagte er sich nicht. Also blieb noch genau eine Möglichkeit. Die Treppe, die ihn nach oben gebracht hatte, setzte sich auch nach unten fort, in den Keller. Wenn er sich dort verkroch, saß er endgültig in der Falle.
Andererseits konnte er dort auch eine Waffe finden. Eine kleine Verschnaufpause, etwas Zeit, um wieder folgerichtig zu denken, die Situation einzuschätzen, dazu einen Stab, Gartengeräte, irgendetwas, mit dem man zuschlagen oder zustoßen konnte.
5
Almost dead
Der Keller war kein Keller.
Die Stufen endeten vor einem Portal, das nicht hierher gehörte. Barocke Engelsfiguren aus bemaltem Gips schmückten die steinerne Pforte, hinter der Murmeln hervordrang. Gedämpfte, unverständliche Gespräche, triefend von Hall, sickerten aus der Kühle des dahinterliegenden Raumes, zweifellos ein gewaltiger Saal aus Stein oder Fels, eine Gruft oder eine …
Sir Darren legte die Hand auf den Türgriff. Er hatte die Form eines Omegas, und links daneben befand sich das Alpha-Zeichen. Das erste Drücken blieb erfolglos. Erst als der Dozent sich mit seinem ganzen Körpergewicht gegen die Pforte lehnte, schwang der schwere Flügel auf. Ein staubiges Flattern wie von den Flügeln aufgescheuchter Engel lag für einen Moment in der Luft. Im Inneren des Raumes herrschte ein so düsteres Zwielicht, dass sich seine Augen daran gewöhnen mussten.
Es war wie eine kleine Aufnahmezeremonie, ganz plötzlich, ohne dass ihn jemand darauf vorbereitet hätte.
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