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Falkengrund Nr. 30

Falkengrund Nr. 30

Titel: Falkengrund Nr. 30 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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Er spürte, wie zahllose Augenpaare ihm entgegenblickten, und abzuwarten, bis ihre Besitzer sichtbar wurden, war eine Erfahrung voll stillem, kriechendem Grauen.
    Schwarzgrau ragten Steinwände empor. Auch die Sitzgelegenheiten, auf denen sich Hunderte von Menschen niedergelassen hatten, bestanden aus Stein. Die Luft war kalt, doch vom Boden her stieg eine überraschende Wärme auf. Dazu kam ein feines, kaum spürbares Schwanken, und beides zusammen ergab den Eindruck, ein Schiff aus eiskaltem Fels schwimme in einem Ozean aus Magma.
    Der Raum aber war eine Kirche.
    Eine christliche Kirche, ein schlichtes Kruzifix an den Wänden, so gewaltig, dass es Riesen in den Stein gemeißelt haben mussten. Auch Kirchenfenster gab es. Sie waren in Rottönen gehalten, und hinter ihnen glomm ein lebendiges, unruhiges Feuer. Wenn der Raum ein Schiff war, dann wohl ein Unterseeboot in der Hölle …
    Sir Darren schritt über den felsigen Boden, näherte sich den Sitzreihen. Er betrachtete die Personen, die dort saßen. Es überraschte ihn nicht sehr, dass manche von ihnen nicht menschlich waren, sondern den Gestalten glichen, die ein Hieronymus Bosch in seinen Höllenbildnissen gemalt hatte. Dämonische Wesen, missgestaltet oder Tieren ähnelnd, gerne auch mit überzähligen oder fehlenden Gliedmaßen, dazu rissige oder schleimige Haut. Was ihn viel mehr verstörte, war die Tatsache, dass einige der Menschen so durchdringend satanische Mienen zogen, dass die Ungeheuer neben ihnen geradezu harmlos wirkten, Clowns in verrückten Aufmachungen. Er fing Blicke auf, die auf seiner Haut brannten. Und seine Ohren erhaschten Flüche, unflätig und barbarisch, die ihm den Magen umdrehten.
    Hier schien es keinen Platz für ihn zu geben, keine freie Sitzgelegenheit. Er wandte sich nach vorne, wo ein unförmiger Fels als Altar auf einem zersplitterten Marmorboden lag – ein Meteorit, der hier eingeschlagen hatte? Um den herum die Kirche gebaut worden war? Diese Kirche im Keller einer verlassenen Klinik, die zur Heimat eines Sadisten geworden war?
    Längst hatte Sir Darren erkannt, dass seine Vorstellungen von Realität hier unten keinen Wert mehr hatten, und er war ein Mann, der wusste, wann der Zeitpunkt gekommen war, keine Fragen mehr zu stellen und alles einfach hinzunehmen. Diesen Punkt hatte er überschritten, als er diesen Saal betrat. Alle Bemühungen um Interpretationen und Erklärungen stellte er für den Moment zurück, beobachtete nur.
    Hinter dem Altar erhob sich eine schiefe, überhängende Felswand, aus der eine Art Kanzel hervorwuchs, ebenfalls aus Stein. In der Kanzel bewegte sich etwas. Ein Mann mit einem enormen weißen Bart war dort auszumachen, undeutlich wabernd in den Schatten. Dieser Mann räusperte sich, und sein Husten pflanzte sich in mehreren hin und her springenden Echos durch den Saal fort.
    "Darren!", rief eine Stimme hinter dem Dozenten. "Darren! Hier bin ich! Willst du den Platz nicht? Ich habe ihn eigens für dich freigehalten!"
    Der Angesprochene ruckte herum. Aus der Menge ragte eine Hand empor, mehr war nicht zu sehen. Der Mann hatte Französisch gesprochen, Französisch mit einer eigenartigen Färbung.
    Jemand hatte ihm also einen Platz besetzt, inmitten der bunt zusammengewürfelten Gemeinde aus Menschen und Dämonen. Gut, er würde es hinnehmen, wie es geschah. Im Bewusstsein, Teil eines Spiels, eines Theaterstücks zu sein, ging er brav an der Seite des Kirchenschiffs entlang, bis er die Reihe erreichte, wo die Hand aufgetaucht war. Inzwischen hatten noch mehr Anwesende Hände (oder Klauen) gehoben. Aus verschiedenen Kehlen klangen spöttische Rufe wie: „Darren, Darren! Ich habe dir nichts freigehalten, aber du kannst es dir gerne auf meinem Schoß bequem machen!“
    Der Dozent hatte nicht zum ersten Mal in seinem Leben das Gefühl, nur Schauspieler in einem Stück zu sein, das sich völlig unmerklich in die Realität geschoben hatte. Damals während seiner Zeitreise war es ähnlich gewesen. Eine Erzählung von Edgar Allen Poe sowie das Gedicht vom Alten Seemann hatte er als Akteur selbst durchlebt. Gegipfelt hatte seine Odyssee über die Weltmeere in dem Kampf mit einem dämonischen Meereswesen. Das Ungeheuer hatte die berühmte Marie Celeste verwüstet und war schließlich von Sir Darren mit dem zu Blei gewordenen Leib des Albatros vernichtet worden, der in der „Ballad of the Ancient Mariner“ vorkam. Ein Abenteuer, das er weniger und weniger verstand, je mehr er darüber nachdachte, denn letztlich

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