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Falkengrund Nr. 30

Falkengrund Nr. 30

Titel: Falkengrund Nr. 30 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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dass er kaum sprechen konnte.
    „Eine ausgezeichnete Frage.“ Der Arzt riss sich die Kopfbedeckung vom Kopf und enthüllte die berühmte Frisur mit den schief in die Stirn geklatschten Haaren. Auch wenn der Mund noch verdeckt war, bestand jetzt kein Zweifel mehr, dass die Ähnlichkeit mit der wohl furchtbarsten Gestalt der Menschheitsgeschichte keine oberflächliche war. Der Mann war Hitler wie aus dem Gesicht geschnitten. „Sie wissen ja noch nicht einmal, wer unser Patient ist. Sollten Sie nicht einmal unter das Tuch sehen, ehe Sie fordern, ihn zu retten? Vielleicht ist es besser für uns alle, ihn zu …“ Er machte eine Bewegung mit dem Skalpell, wie ein Dirigent.
    Unter dem Tuch drangen nun dumpfe Worte hervor, ausgestoßen voller Schmerz und Hass. Was der Liegende sagte, erschloss sich Sir Darren nicht, denn er benutzte eine Sprache, die ihm nicht geläufig war.
    „Der Hund spricht Aramäisch“, knurrte der Arzt wie zur Antwort. Sir Darren fiel es immer schwerer, nicht eine Wiedergeburt des Führers in ihm zu sehen. „Er könnte auch Hebräisch, aber er weigert sich. Das tut er nur, um mich zu schikanieren.“
    Aramäisch war eine semitische Sprache, eng verwandt mit dem Hebräischen. Einige Abschnitte des Alten Testaments waren in Aramäisch verfasst, und außerdem war es die Sprache einer bekannten Persönlichkeit gewesen.
    Die Sprache Jesu!
    Es begann richtig bizarr zu werden. Die Achterbahn des Schreckens war richtig angelaufen und gewann immer mehr an Schwung. Wenn als nächstes das Tuch gelüftet wurde und ein hageres Gesicht mit Bart zum Vorschein kam, umrahmt von langen Haaren, ein ernstes, aber vergebendes Lächeln auf den Lippen, auf der Stirn möglicherweise noch Abdrücke der Dornenkrone …
    „Ich fantasiere“, flüsterte Sir Darren. „Das ist ein Traum.“
    „Philosophengeschwätz“, kommentierte der Arzt gelassen. „Versuchen Sie einmal aufzuwachen.“
    Auch ohne die Aufforderung hätte der Brite eben das versucht. Er tat nichts so Sinnloses wie sich in den Arm zu zwicken – das überließ er den Figuren in schlechten Romanen. Aber er konzentrierte sich mit aller Kraft, visualisierte sich auf dem Bett in seinem Hotelzimmer, bemühte sich, die Pasewalk Clinic verschwinden zu lassen, ihre aberwitzigen Personen, die schmutzigen Kulissen, all die irren Details, die abgerissenen Poster und blutverschmierten Skalpelle …
    Mit dem Ergebnis, dass er sich in eine Panik hineinsteigerte, die das Blut in seinen Adern beinahe zum Kochen brachte. Er musste innehalten, als sein Schädel zu zerplatzen schien. Entsetzt erkannte er, dass der Arzt mit dem Führer-Gesicht seinen Arm hielt, ihn stützte. Das Zimmer war noch da, ebenso die Personen. Es schien ihn mit seiner bloßen Existenz zu verhöhnen. Wenn möglich, dann war es noch abstoßender, scheußlicher geworden. Der Schmutz war jetzt tiefer, speckiger, als hätte er in den letzten Sekunden die Gelegenheit gehabt, länger einzuwirken.
    „Kippen Sie mir nicht um“, meinte der Wahnsinnige beinahe besorgt. „Entscheiden Sie sich lieber, ob Sie mir assistieren oder nicht. Unserem Patienten bleibt nicht mehr viel Zeit. Mit Ihren Spielchen gefährden Sie sein Leben.“
    Sir Darren schüttelte die Hand ab, taumelte an den Operationstisch. Seine schweißnassen Fingerspitzen berührten das Tuch, unter dem der Leidende noch immer stöhnte und in der Sprache des Messias Wörter ausstieß, die gar nicht zu einem Gottessohn passen wollten. Die vielmehr nach wüsten Beschimpfungen klangen.
    Der Dozent krallte seine Finger in den Stoff. In den erstaunlich kalten, klammen Stoff. Riss das Tuch von dem Kopf des Fremden.
    In seiner Kehle war kein Schrei mehr für das, was er sah. Auf irgendeiner Ebene fiel ihm ein Stein vom Herzen, dass der Liegende nicht das Antlitz des Jesus von Nazareth hatte. Andererseits erschütterte ihn der Anblick des Wesens bis ins Innerste.
    Das Gesicht war nur entfernt menschenähnlich. Etwas Animalisches mischte sich hinein, mehr als nur ein Charakterzug – es war tatsächlich ein Tier, in dessen Augen er blickte. Die Stirn bildete zwei Höcker, aus denen gewundene, holzige Hörner zur Seite wuchsen, so krumm, dass sie sich unter dem Tuch kaum abgezeichnet hatten. Die Gesichtshaut war weitgehend von kurzem Fell überzogen, doch an den Rändern wurden die Haare länger, bildeten eine gewaltige Mähne. Die Lippen hatten etwas Katzenhaftes an sich, und aus dem leicht geöffneten Mund ragten lange schiefe Zähne. Hauptsächlich

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