Falkengrund Nr. 31
hier auf dem Foto.“
Werner betrachtete ein Schwarzweißbild, das sie ihm unter die Nase hielt. Die junge Frau auf dem Bild schien um die 18 zu sein – das Alter, in dem sie mit Falkengrund in Berührung gekommen war?
Sir Darren unternahm einen neuen Versuch. „Frau Zeiss“, brüllte er. „Erinnern Sie sich an das Jahr 1900? Ihren Besuch auf Falkengrund?“
„Falkengrund!“, stieß die Alte hervor. „Mein Gott, Falkengrund – war das eine Zeit! So etwas Verrücktes gibt es nicht mehr, heutzutage.“
„Was ist bei Ihrem Besuch auf Falkengrund vorgefallen?“
Wieder lachte sie. „Die Käfer, sie haben mir nichts getan. Gar nichts.“
„Das ist schön“, sagte Sir Darren. „Und der Baron von Adlerbrunn?“
„Nur ein Gespenst. Hinter der Sache steckte Erwin. Die Geräte. Schreibmaschinen, die von selbst schreiben. Kameras. Das war moderner als heute, damals. Moderne Zeiten waren das.“
„Und der Baron?“
„Hä?“
„Was tat der Baron von Adlerbrunn?“ Sir Darren hatte den Stuhl nicht angenommen, stand noch immer gebückt vor ihr und hielt ihre Hände.
„Er wollte mich retten“, behauptete sie plötzlich. Speichel lief aus ihrem Mund, und da sie ihn nicht abwischte, verschwand er irgendwo unter der Decke. „Aber dann erschien Katharina, seine Frau.“
Werner riss die Augen auf. „Was?“, wisperte er.
„Der Baron wollte zu Katharina“, sprach die Greisin weiter. Sie richtete sich etwas auf, zog ein Stück Decke zurück, das wie eine Kapuze um ihren Kopf gewickelt war. Kaum hatte sie das getan, trat ihre Enkelin neben sie und legte die Decke wieder über sie. Edeltraud war noch nicht fertig. Sie schien geistig völlig klar, als sie sagte: „Der Baron wollte endlich sterben, er wollte zu ihr ins Reich der Toten. Aber sie ließ ihn nicht. Sie hatte ihm nicht verziehen. Hätten Sie ihm verziehen, Herr …“
„Edgar.“
„Hätten Sie ihm verziehen, Herr Eger?“
„Vermutlich nicht“, erwiderte Sir Darren.
„Ich auch nicht“, meinte sie. „So sind wir Menschen.“
„Ich glaube“, mischte sich Ines Angermayer ein, die die ganze Zeit über nicht aus dem Zimmer gegangen war, „meine Großmutter muss sich jetzt ausruhen. Das ist sehr anstrengend für sie.“
Werner spürte Ärger in sich aufsteigen. „Aber es geht ihr gut! Sie regt sich nicht auf, sie überanstrengt sich nicht. Wir …“
„Sie gehen jetzt besser.“
„Ja, aber …“
„Natürlich“, sagte Sir Darren. „Haben Sie vielen Dank. Und Ihnen, Frau Zeiss, alles erdenklich Gute.“
Wie in Trance reichte Werner der alten Dame die Hand.
Als sie vor der Tür standen – und das ging sehr schnell – redete er gestikulierend auf den Briten ein: „Warum haben Sie sich so leicht abwimmeln lassen? Das Gespräch hat doch eben erst angefangen! Wir hätten noch so vieles von ihr erfahren können.“
„Nein. Wir wissen, was wir wissen müssen. Es passt alles zusammen.“
„Was passt zusammen?“ Werner hasste es, so schwer von Begriff zu sein, aber da Sir Darren ihn ohnehin für einen Idioten halten musste, spielte es keine Rolle mehr.
Sir Darren hatte schon die Tür seines Autos geöffnet und blieb nun stehen. „Lorenz von Adlerbrunn ist kein Spuk wie jeder andere“, erklärte er. „Die Seelen, die nicht sterben können, wollen normalerweise Rache üben. Lorenz hat bereits zu Lebzeiten Rache geübt, Rache an Unschuldigen. Nun hasst er nur eines: sich selbst. Und Hass auf sich selbst – so etwas reicht sehr viel tiefer als Hass auf andere. Das macht ihn so mächtig und so tödlich. Doch dieser Hass war nicht immer so groß. In den ersten Jahren nach dem Massaker war Lorenz von Adlerbrunn ein nahezu umgängliches Gespenst.“
„Umgänglich“, wiederholte Werner. Wenn das nicht ein scheußlich unpassendes Wort für einen x-fachen Mörder war!
„Ja, umgänglich. Konrad Winkheim und seine Begleiter lebten drei Jahre lang mit ihm unter einem Dach, ohne dass er sie getötet hätte. Ja, er war ihnen noch nicht einmal so lästig, dass sie geflohen wären! Daraus folgt: In den Jahren bis 1900 war er nicht der, der er heute ist.“
Wenn man es so betrachtete, hatte Sir Darren recht. „Und … was war der Anlass dafür, dass er sich verändert hat?“
„Edeltraud Zeiss hat es uns eben erzählt.“
„Hat sie das?“
„Lorenz wollte bereuen, büßen, er wollte sogar etwas Gutes tun, indem er Edeltraud vor irgendwelchen Gefahren bewahrte – es spielt keine Rolle, welcher Art diese Gefahren waren. Er wollte
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