Falkengrund Nr. 31
Viertelstunde früher als vereinbart vor dem Haus in der Sternstraße. Es war ein kleines, älteres Einfamilienhaus, der Zaun rostig, die Buchenhecken vernachlässigt. Fünf Minuten nach ihm traf Sir Darren ein.
„Wer wohnt hier?“, wollte Werner wissen. „Ich habe schon aufs Türschild geschielt – das steht ‚Angermayer‘, das sagt mir nichts.“
Sir Darren legte seinen Finger auf den einzigen Klingelknopf. „Das ist die Enkelin – Ines Angermayer. Sie war so freundlich, uns sofort einzuladen.“
„Die Enkelin von wem?“
„Von Edeltraud Laski, geborene Zaiss. Der Frau, die zweimal Falkengrund besuchte.“
Sir Darren hatte also nach den Nachkommen der fünf Menschen geforscht, die sich damals auf Falkengrund aufhielten. Er wollte Details erfahren, die nicht in den alten Chroniken standen. Aber was genau erhoffte er sich davon?
Eine Frau in ihren Vierzigern öffnete ihnen. Sie hatte einen schlanken Oberkörper und dicke Hüften, dazu eine Miene, die nicht oft zu lachen schien. Im Flur stank es penetrant, aber wonach? Nach einer seltsamen Mischung aus kaltem Tabakqualm und Desinfektionsmitteln. Er musste an Schwesternzimmer in Krankenhäusern denken. Werner forschte im Gesicht der Frau. Irgendwie konnte er sich nicht vorstellen, was sie von ihr Wesentliches erfahren sollten.
„Meiner Großmutter geht es heute nicht besonders“, erklärte Ines Angermayer und führte sie durch den Flur, der mit altem Gerümpel vollstand.
Was hatte sie da gesagt? Ihre Großmutter? Aber das bedeutete ja …
„Hier, das ist das Zimmer. Ich bringe noch einen Stuhl – ich wusste nicht, dass Sie zu zweit kommen. Sie müssen laut sprechen. Sie ist sehr schwerhörig, und das Hörgerät funktioniert nicht. Träudchen! Träudchen – du hast Besuch!“
Dass sie ihre Großmutter „Träudchen“ rief, war zwar niedlich, aber Liebe schwang in ihrer Stimme dennoch keine mit. Vielleicht war sie überfordert mit der Pflege der alten Frau.
Mitten im Zimmer stand ein Pflegebett, daneben stapelten sich Inkontinenz-Einlagen bis zur Decke. Das Fenster war zum Lüften geöffnet worden, und die Luft war drinnen nicht viel wärmer als draußen. In einem schweren alten Schaukelstuhl lag ein Wust aus Wolldecken. Nur ein verschrumpeltes Gesicht und zwei krallenartige Hände ragten zwischen den Decken hervor. Sir Darren ergriff beide Hände und drückte sie. Werner glaubte eine Herzlichkeit in Sir Darrens Haltung zu erkennen, die er von ihm nicht gewohnt war. Es schien, als habe er enormen Respekt vor dem Alter dieser Person.
„Frau Laski?“, sagte der Hagere. „Ich grüße Sie. Mein Name ist Darren Edgar. Verstehen Sie? Darren Edgar. Dürfte ich Ihnen vielleicht ein paar Fragen stellen?“
Die winzige Frau zeigte ein zahnloses Lächeln. Ihr Mund war ein faltiges, rosettenartiges Ding, das aussah, als wäre es zum Saugen und Ausspucken gleichermaßen geeignet. Da außer dem Lächeln keine Reaktion auf die Frage kam, wiederholte Sir Darren sie drei Stufen lauter. Ihm war anzumerken, dass er nicht gerne brüllte.
„Sind Sie Arzt, Herr Daggenegger?“, erkundigte sie sich. Ihre Stimme zitterte, und die Aussprache war undeutlich. „Ich habe Zahnweh, hier, die vorderen zwei.“ Sie öffnete den Mund weit, und ihre beiden Gäste hatten die Ehre, einen dicken grauen Lappen zu sehen, ihre Zunge. Die beiden Zähne, von denen sie sprach, waren ihr vermutlich schon vor Jahrzehnten ausgefallen.
Werner erschrak, als die Enkelin ihm einen Stuhl in die Kniekehlen schob. Verwirrt setzte er sich. Es war unglaublich! Edeltraud Zeiss, die Frau, die vor 78 Jahren auf Falkengrund beinahe ihr Leben gelassen hatte, saß vor ihm, von der erbarmungslosen Sonne des Lebens ausgetrocknet, nahezu taub und vermutlich mehr als nur ein bisschen durch den Wind. Aber sie war da. Werner wäre nie auf die Idee gekommen, heute noch nach Zeitzeugen zu suchen. Das Jahr 1900 schien ihm unendlich weit entfernt, doch hier saß das Bindeglied zwischen damals und heute.
„Wie alt ist sie?“, fragte er die Enkelin.
„Siebenundneunzig und ein paar Zerquetschte. Sie wird noch hundert, das garantiere ich Ihnen, bei der guten Pflege, die sie hier hat. Aber ich, ich werde keine fünfzig werden, weil ich mich mit ihr zu Tode schufte. So sieht‘s aus!“
„Frau Laski, erinnern Sie sich …“, begann Sir Darren.
„Sagen Sie Frau Zeiss zu ihr“, fuhr Ines Angermayer dazwischen. „Ihr Kopf schwebt in ihrer Jugend. Da ist sie wieder ein freches hübsches Mädchen wie
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