Falkengrund Nr. 31
einen kleinen Teil seiner Schuld zurückzahlen, um erlöst zu werden, ins Totenreich einzugehen. So, und jetzt benutzen Sie Ihre Vorstellungskraft, Herr Hotten! Die Seele des Barons schickt sich an, nach neun Jahren eines unnatürlichen Daseins endlich die Schwelle zum Jenseits zu überqueren, endlich alles von sich abfallen zu lassen, frei von Schuld zu werden – doch der Weg ist dem Baron versperrt. Auf der Schwelle steht jemand, Katharina, die von ihm Ermordete, und sie ist nicht bereit, ihm zu vergeben. Sie verwehrt ihm den Zugang und ihre Gnade. Und er kann nicht an ihr vorbei. Dafür liebt er sie zu sehr.“
„Ich … verstehe.“
„Die Seele des Lorenz von Adlerbrunn ist doppelt ausgestoßen, doppelt gefangen. Normalerweise verschwindet ein Spuk dann, wenn er selbst loslässt. Wenn er die Fähigkeit zur Reue, zur Gnade oder einfach zum Hinnehmen des Unabänderlichen entwickelt. Er verschwindet aus eigener Kraft. Doch als Lorenz nach neun Jahren Spukdasein diese Fähigkeiten zu entwickeln begann, blieb ihm das Portal ins Jenseits dennoch verschlossen. Sie ist dort, Katharina, und sie ist der Meinung, das Jenseits sei zu klein für sie beide. Um das diesseitige Leben hat er sich selbst betrogen, um den ewigen Frieden im Jenseits bringt ihn Katharina. Das, worauf jeder Mensch hoffen darf, ganz gleich was ihm im Leben widerfährt oder was er anrichtet, nämlich die Ruhe nach dem Tod, ist ihm versagt.“
„Und das steigert seinen Zorn ins Unendliche.“
Sir Darren hob die Schultern. „Was sollte eine solche Seele anderes tun als hassen? Reue und Liebe stehen ihr als Option nicht offen. Wenn je ein Mensch verdammt war, dann dieser Lorenz von Adlerbrunn.“
Werner wurde es heiß und kalt zugleich. Die Gestalt, die er hinter einem Fenster des Schlosses gesehen hatte, stand vor seinem inneren Auge. Er fragte sich, ob es klug gewesen war, sich überhaupt mit Falkengrund zu beschäftigen. Ein unterschwelliges, aber bodenloses Grauen hatte sich fest in ihm eingenistet, ein Parasit.
„Schlichter bemerkt in seinen Aufschrieben die Insekten“, fuhr Sir Darren fort. Werner hatte den Eindruck, der Brite rede nicht, um Werner zu informieren, sondern um seine Gedanken zu ordnen. „Als Falter kamen sie, dann verpuppten sie sich und wurden am Ende zu Raupen.“
„Halluzinationen“, warf Werner ein.
Sir Darren sah ihn an. „Nein. Es ist eine rückwärts gerichtete Metamorphose. Ein Ausdruck von Lorenz‘ Seelenwelt. Er steckt in der Falle. Er kann nicht vorwärts, also strebt er zurück. Seine Verzweiflung ist so groß, dass sie die Gesetze der Natur außer Kraft zu setzen vermag. Es drängt ihn danach, die Vergangenheit zur Zukunft zu machen und sein Vergehen zu annullieren. Er sehnt sich zur Unschuld seiner Jugend zurück. Aber die lässt sich für ihn nicht mehr erlangen, mit all seiner Macht nicht.“
„Und warum hat sich Dr. Schlichter in den letzten Minuten seines Lebens äußerlich in Lorenz verwandelt?“
„Weil es Lorenz ist, den Lorenz hasst, nicht Schlichter. Lorenz will vor allem Lorenz töten. Immer und immer wieder bis ans Ende der Zeit. Er projiziert sich auf andere Menschen, um sich wieder und wieder für das zu bestrafen, was er getan hat.“
Werner sah zurück zu dem Haus, das sie eben besucht hatten. Ines Angermayer schloss gerade das offene Fenster und warf ihnen einen giftigen Blick zu. Sie liebte es wohl nicht, bei ihrer aufopferungsvollen Arbeit gestört zu werden.
„Und jetzt?“, fragte Werner.
„Jetzt beenden wir unsere Beschäftigung mit Lorenz von Adlerbrunn.“
„Wie bitte?“
„Betrachten Sie den Fall als gelöst. Wir haben den Spuk erforscht, wir kennen die Hintergründe, wir haben ein klares Bild. Ich werde einen Aufsatz schreiben und im Journal of the Society for Psychical Research veröffentlichen.“
„Und Falkengrund?“
„Möglicherweise werden ein oder zwei interessierte Herren aus England, die meinen Text gelesen haben, hier auftauchen und sich in Gefahr begeben. Ich werde den Aufsatz so formulieren, dass die Klugen gewarnt sind und die Narren abgeschreckt werden. Außerdem werde ich mir die kleine Lüge erlauben, Edeltraud Zeiss sei bereits verblichen. Wir möchten ihr und ihrer entzückenden Enkelin doch keine weiteren Umstände bereiten, nicht wahr?“
„Sie … unternehmen nichts?“
Sir Darren setzte sich hinters Steuer seines Wagens. „Halten Sie mich für einen Geisterjäger?“
Mit diesen Worten schloss er die Tür und startete den
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