Falkengrund Nr. 32
Waisenheim auf. Sie hat beide Eltern in frühster Kindheit durch einen Unfall verloren.“ Alle hielten die Luft an. Außer Werner hatte das niemand gewusst. „Sie ist wohl schon immer eine Träumerin. Sie schrieb schon als Kind Geschichten. Märchen. Fantasy. Wie immer man das nennen will. Sie hat mir sogar manchmal Geschichten vorgelesen, die sie als kleines Kind …“ Hier unterbrach sich Werner. „Komisch“, murmelte er. „Das ist verrückt …“
„Wovon sprechen Sie?“, wollte der Beamte wissen.
„Das muss ein Zufall sein.“
„Werner!“, sagte Jaqueline streng. Sie alle hatten ein kumpelhaftes Verhältnis zu ihrem Rektor. „Seit wann glaubst du an Zufälle?“
„Du hast recht.“ Er schluckte. „In einer ihrer allerersten Geschichten – vielleicht ist es sogar ihre erste – geht es um einen Sandmann.“
„Wirklich?“, rief Fachinger aus und blies versehentlich seinen Tabak durch die Luft. Ein Missgeschick, wie es einem alten Hasen gewiss nicht jeden Tag widerfuhr. „Was genau ereignet sich in der Geschichte?“
„Nicht viel. Es ist auch keine richtige Geschichte, eher ein Erlebnisbericht, soweit ich das verstanden habe. Warten Sie – ich denke, ich weiß, wo Angelika die alten Manuskripte aufbewahrt. Ich werde nachsehen, ob die Episode vom Sandmann dabei ist.“
Er verschwand in großer Eile im Schloss, und die anderen, die keinen Sinn mehr darin sahen, auf dem Vorplatz zwischen den Autos herumzustehen, folgten ihm bis in die Halle, setzten sich an die Tische und warfen sich finstere Blicke zu wie eine schwarzgekleidete Bande von Verschwörern. Um sie herum bauten die beiden Männer vom Catering-Service eine Reihe lecker aussehender Speisen auf, die Falkengrunds Bewohner unter anderen Umständen nicht kalt gelassen hätten. In dieser Situation jedoch empfanden sie die Platten voller Köstlichkeiten als Zumutung, ja, geradezu als Verhöhnung.
„Ich kann immer noch nicht glauben, dass wir einfach zugesehen haben, wie der Kerl mit Angelika entwischt ist“, sagte Salvatore in die Stille hinein. Und Jaqueline meinte mit bitterem Galgenhumor: „Jetzt wird es in meinem Zimmer mächtig einsam werden. Wahrscheinlich bin ich als nächste an der Reihe. Hoffentlich fällt mir kein Klavier auf den Kopf.“ Jaqueline war die Zimmergenossin von Sanjay und Angelika gewesen.
Nach fünf Minuten kehrte Werner zurück, in der Hand einen kleinen Papierstapel. „Hier ist der Text. Und hier“, er zog ein gelbliches Blatt hervor, „gibt es einen Hinweis darauf, wie das Waisenheim hieß, in dem Angelika aufwuchs. Ich dachte mir, es interessiert Sie bestimmt.“ Das alles überreichte er Fachinger.
Der Kommissar las den Text einmal stumm und dann noch einmal laut vor. Ein paar kurze Zeilen, in verspielter Mädchenschrift von einem Kind geschrieben, das damals vermutlich noch keine zehn Jahre alt gewesen war. Von dem Sandmann, der die Kinder tröstete, der schließlich wegging und wieder zurückkehrte, aber nicht mehr derselbe war.
„Eine eigentümliche Geschichte“, resümierte Jaqueline, bevor Fachinger etwas sagen konnte. „Was das auch zu bedeuten hat – es sieht fast so aus, als hätte unsere liebe Angelika etwas mit den Todesfällen in Bottrop zu tun. Herr Kommissar, was werden Sie jetzt unternehmen?“
„Das kann ich Ihnen sagen, werte Kollegin“, gab Fachinger mit der Andeutung eines Schmunzelns zurück. „Ich werde dem Heim einen Besuch abstatten, in dem Frau Dahlkamp ihre Kindheit verbrachte. Vorausgesetzt, es existiert noch, und der unheimliche Sandmann hat es noch nicht in ein Reich des Schreckens verwandelt.“
Jaqueline nickte. „Gut. Dann wird sich unser Detektivbüro dem Mansion of Fear widmen.“
„Ich kann es nicht gutheißen, wenn Sie die Polizeiarbeit behindern“, gab Fachinger zu bedenken.
„Sie brauchen es nicht gutzuheißen“, blieb Jaqueline unbeeindruckt. „Es reicht, wenn Sie es dulden.“
„Ts ts ts, meine drei jungen Detektivfreunde. Ts ts ts.“ Endlich verabreichte sich Fachinger die Prise Schnupftabak, auf die er schon lange wartete, und heftiges Niesen tönte darauf durch die Halle.
8
Was hatte Angelika Dahlkamp gemeint, als sie schrieb, der Sandmann wäre nicht mehr so wie früher gewesen? Was genau hatte sich verändert? Und war er nur eine Fantasiefigur, oder verbarg sich hinter ihm eine real existierende Person?
Das Waisenheim hieß Haus Melanchton und befand sich im schönen Würzburg. Es war ein wuchtiges Steingebäude aus dem 19.
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