Falkengrund, Schule des Okkulten - Episode 1 Schnitt
einmal sicher, ob die durchscheinenden Wesen ihn überhaupt wahrnahmen.
Wahllos griff er nach einer der Boxen. Er stellte fest, dass er die Dose mühelos aus ihrer unsichtbaren Halterung lösen konnte. Piet öffnete den Behälter und nahm die Filmrolle heraus.
Alte Filme , dachte er. Uralte Filme, aus der Vorgeschichte der Menschheit. Woher haben sie diese Dokumente? Wie haben sie sie gedreht? Damals gab es auf der Erde noch keine Kameras ...
Er drehte die Rolle in der Hand und beobachtete, wie sich ein Teil des Filmes abwickelte. Gebannt starrte er darauf. Der Raum, in dem er schwebte, war so hell, dass er die einzelnen kleinen Bilder deutlich erkennen konnte.
Mit angehaltenem Atem ließ er den Film durch seine Hände gleiten. Er, der er schon Tausende von Filmstreifen gesehen hatte, konnte aus den einzelnen Bildern in seinem Kopf problemlos einen Film zusammensetzen. Dieser hier war längst nicht so alt wie jener, mit dem er sich in den letzten Monaten beschäftigt hatte. Die Bilder waren klar und wiesen noch keine Spuren des Alterns auf.
Ein Haus war zu sehen, eine Art Schloss oder ein Landhaus. Die Kamera huschte gehetzt durch die Räume des Gebäudes. Gesichter von Menschen tauchten auf, angsterfüllte Gesichter, aber auch Gesichter voller Hass und Wahnsinn. Schreie waren zu hören. Wieder die kurzen Szenen, die schnellen Schnitte. Auch dieser Film war nicht viel länger als eine Minute.
Die Kamera floh aus dem Haus, brach durch die Eingangstür, jagte auf eine Wand aus hohen Kiefern zu. Dann wandte sie sich noch einmal um, und die schlichte Front des Gebäudes tauchte auf. Aus der geöffneten Tür stob eine Gestalt. Sie schrie etwas mit verzerrter Stimme.
„Falkengrund wird dich fressen!“
Die Kamera ruckelte, vollführte unkontrollierte Bewegungen, raste in kreisenden Bewegungen über den Himmel und die Landschaft. Als sie die Gestalt wieder einfing, war diese ganz nahe herangekommen und streckte ihre beiden Hände aus.
Das Bild wurde dunkler, immer dunkler, bis es völlig schwarz war. Das war das Ende des Films.
Piet war so erschrocken, dass er die Filmrolle und die Box von sich schleuderte. Er sah noch, wie beide zeitlupenhaft langsam von ihm weg drifteten, dann erwachte er, klatschnass von seinem eigenen Schweiß.
12
Am selben Tag wurde Ekaterini von Dr. Sveric angerufen. Er klang aufgeregt und bat sie, auf dem schnellsten Weg in die Klinik zu kommen. Ihrem Mann gehe es sehr schlecht.
Piet tobte, und auch die stärksten Sedativa vermochten ihn nicht vollkommen ruhig zu stellen. Sie hatten ihn an sein Bett fesseln müssen.
„Ich habe etwas gesehen!“, presste er zwischen seinen blau angelaufenen Lippen hervor. Er wirkte nun wie ein Siebzigjähriger, mehr noch, wie ein Mensch an der Schwelle des Todes. „Falkengrund! – Ein ... ein gewaltiges Filmarchiv ... im leeren Raum ... und einen dieser Filme habe ich gesehen ... er war neu ... Falkengrund ... ein Schloss, eine Wand aus Kiefern ... eine schreckliche Gestalt ... Tod ...“
Eine Schwester warf dem Arzt einen Blick zu. Sie hielt die Spritze mit der nächsten Dosis Beruhigungsmittel schon in der Hand, wartete nur auf die Order, es dem Patienten zu injizieren. Aber Dr. Sveric deutete ein Kopfschütteln an.
Piet war nicht ansprechbar. Er spulte nur immer wieder seine abgehackten Sätze ab. Immer wieder sprach er von dem Filmarchiv und von einem Ort namens „Falkengrund“.
Der Doktor führte die blasse Ekaterini in sein Sprechzimmer. Stumm setzten sie sich und ließen einige Zeit vergehen.
„Was ist mit ihm?“, wollte die Frau wissen.
„Er hat eine neue Stufe erreicht. Eine neue Stufe des Wahnsinns. Ihm erscheint es wie eine Erleuchtung, weil Dinge plötzlich Sinn zu ergeben scheinen. Er fühlt sich ... entrückt. Aber seine Aufregung ist so groß, dass sein Körper damit nicht mehr fertig wird.“
Ekaterini sah zu Boden.
„Wird er sterben?“
Dr. Sveric antwortete nichts darauf. Er führte sie in das Café der Klinik, ließ ihr einen Tee und etwas Gebäck bringen. Als sie den Tee getrunken hatte und wieder auf die Station zurückkehrte, wo ihr Mann lag, kam sie gerade noch rechtzeitig, um dem sterbenden Piet Dochtermann die Hand zu halten.
Sein Herz blieb einfach stehen.
13
Piet sah seine Mutter, wie sie ihn in den Armen hielt, nur kurz, nur ein, zwei Sekunden lang. Dann andere Familienmitglieder, die längst tot waren – wie in einem Kaleidoskop huschten die vertrauten Gesichter an ihm vorbei. Die Schule, Freunde,
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