Die Ratten
JAMES HERBERT
Die Ratten
Titel der amerikanischen Originalausgabe THE RATS
Deutsche Übersetzung von Joachim Honnef
8. Auflage, Copyright © 1974 by James Herbert Copyright © der deutschen Ubersetzung 1988 by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Printed in Germany 1992 Umschlagzeichnung: Don Bräutigam Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München Satz: IBV Satz- und Datentechnik GmbH, Berlin Druck und Bindung: Eisnerdruck, Berlin
Prolog
Das alte Haus war seit über einem Jahr unbewohnt. Es stand abseits der Straße bei einem nicht mehr benutzten Kanal und war von wucherndem Blätterwerk abgeschirmt. Keiner ging dorthin, niemand interessierte sich mehr dafür. Ein paar Fensterscheiben waren von Kindern aus der Nachbarschaft eingeworfen worden, doch auch die Kinder hatten das Interesse verloren, als dem Klirren von Glas nur noch Stille gefolgt war. Eigentlich hatte man sich nur an dem Tag für das alte Haus interessiert, an dem die alte Frau weggebracht worden war.
Es war bekannt, daß sie dort seit dem Tod ihres Mannes allein lebte, nie ausging, und sie wurde nur selten gesehen, wenn sie hinter den Spitzenvorhängen herausspähte. Sie zog die Vorhänge nie auf, sondern schaute durch sie hinaus, und so sah man nur den verschwommenen Umriß ihrer Gestalt, wenn man sich überhaupt die Mühe machte hinzublicken. Jede Woche wurden ihr Lebensmittel geliefert und auf der Hintertreppe abgestellt. Der örtliche Lebensmittelhändler erzählte, daß die alte Frau die Rechnungen regelmäßig alle drei Monate bezahlte und nie irgendwelche Reklamationen bezüglich der gelieferten Waren hatte. Was ihm gefiel. Zu Beginn hatte er eine Liste für eine regelmäßige Bestellung erhalten, aber wenn er dann und wann ein Pfund Butter oder ein Kilo Zucker vergaß, bemerkte es niemand, und keiner beschwerte sich.
Dennoch war er neugierig. Er hatte die alte Frau gelegentlich gesehen, als Mir Mann noch lebte, doch selbst dann sprach sie nicht viel. Es waren kauzige alte Vögel, sie und ihr alter Mann. Niemals gingen sie aus, nie hatten sie
Besuch. Aber sie mußten offenbar gut betucht sein, denn sie waren jahrelang im Ausland gewesen, und seit ihrer Rückkehr hatte der Mann es anscheinend nie nötig gehabt zu arbeiten. Dann starb der alte Knabe. Der Lebensmittelhändler wußte nicht, woran, aber es muß ein erneutes Auftreten irgendeiner tropischen Krankheit gewesen sein, die er sich im Ausland geholt hatte. Danach wurde die alte Frau nie mehr gesehen, doch der Kaufmann hörte sie gelegentlich. Nicht viel, nur das Rücken von Stühlen oder das Schließen einer Tür. Einmal hörte er sie jemandem rufen, aber er fand nie heraus, wem der Ruf gegolten hatte.
Die Leute fragten sich, was mit der alten Frau los sein mochte. Einige hörten eines Nachts Wehklagen aus dem Haus. Ein andermal Gelächter. Schließlich über einen Monat lang völlige Stille.
Erst als der Lebensmittelhändler seine Lieferung der vergangenen Woche auf der Hintertreppe fand, meldete er die Sache widerstrebend der Polizei. Widerstrebend, weil er das Schlimmste befürchtete und von dem Gedanken nicht sonderlich begeistert war, einen schönen kleinen, regelmäßigen Auftrag zu verlieren.
Es stellte sich heraus, daß die alte Frau nicht tot war. Ein Polizist schaute im Haus nach, und dann traf ein Krankenwagen ein und brachte die alte Frau fort. Sie war nicht tot, nur verrückt. Was den Lebensmittelhändler anbetraf, so hätte sie genausogut gestorben sein können, denn sein kleines Geschäft war so oder so beendet. Es war zu gut gewesen, um anzudauern.
So stand das Haus also leer. Niemand kam, niemand ging, keiner interessierte sich dafür. Nach einem Jahr war es von der Straße aus kaum zu sehen. Das Buschwerk war hoch und dicht, und die Bäume verbargen das obere Stockwerk. Schließlich war den Leuten kaum bewußt, daß es das alte Haus noch gab.
1
Henry Guilfoyle trank sich langsam zu Tode. Er hatte damit vor sechs Jahren angefangen, im Alter von 40 Jahren. Er war ein erfolgreicher Vertreter einer Papierfabrik in Midland gewesen, dem die Beförderung zum Gebietsleiter gewinkt hatte. Das Dumme war, daß er sich spät in seinem Leben verliebt hatte. Und unglücklicherweise in einen seiner jüngeren Vertreter. Er hatte den jungen Francis fünf Wochen lang geschult und auf seine Geschäftsreisen quer durch das Land mitgenommen. Zuerst war er sich nicht sicher gewesen, ob der Junge die gleichen Neigungen hatte wie er, doch als er ihn näher
Weitere Kostenlose Bücher