Falkengrund, Schule des Okkulten - Episode 17 Madoka
O-nî-chan, ich weiß, dass ich die Hauptschuld am Suizid dieser jungen Leute trage. Seither ist keine Stunde vergangen, in der ich nicht daran gedacht habe. Aber ich konnte wirklich nicht wissen, was dort ablief! Dass du dort warst … dass man dich und Vater zur Verantwortung ziehen würde.“
„Man hat mich wie einen irren Mörder behandelt!“, zischte Kazuo plötzlich, und als Madoka einen Blick in seine Richtung warf, hatte sich sein Gesicht in eine Fratze verwandelt. „Verdammt, es war schlimm genug, diese Rolle spielen zu müssen, diesen kranken Menschen Angst einjagen zu müssen. Zuerst wollte ich es nicht tun. Ich sagte Vater, ich könne es nicht, ich bat ihn, einen anderen damit zu beauftragen. Auf Knien bin ich vor ihm herumgerutscht, Madoka. Aber dann … hatte er wieder diesen Blick, diesen enttäuschten Blick, der sagt: Meine Tochter ist ein Genie, aber mein Sohn ist ein erbärmlicher Nichtsnutz. Also habe ich es getan. Er sagte mir, ich hätte nur eine Art Theater zu spielen, doch als du aufgekreuzt bist, war es auf einmal Ernst. Die Polizei ging mit mir um, als wäre ich ein echter Mörder. Weißt du, dass ich zwei Jahre lang dafür im Gefängnis saß? Wenn Vater nicht die besten Anwälte Japans eingeschaltet hätte, säße ich vermutlich heute noch dort!“
Madoka kniff die Lippen zusammen. Das hatte sie nicht gewusst. Seit sie geflohen war, hatte sie bewusst keine Nachrichten aus Japan mehr verfolgt.
„Immer, wenn es so aussah, als würde man mich entlassen, brachte sich einer der damaligen Patienten um, und man beschloss, mich weiter hinter Gittern zu lassen. Obwohl die ganze Wahrheit auf den Tisch kam, gibt es heute noch Sachverständige, die glauben, ich sei ein potenzieller Killer und hätte nicht freigelassen werden dürfen. Also gebe ich ihnen, was sie wollen. Einen Mord.“
„Es muss dir doch einleuchten, dass es ein furchtbarer Zufall war! Dass ich das nicht wollte.“ Madoka bewegte ihre Glieder unter der Decke, versuchte abzuschätzen, ob sie kämpfen konnte, wenn es hart auf hart ging. Noch immer war ihr Körper eine einzige Wunde. Vermutlich würde sie vor Schmerzen ohnmächtig werden, wenn sie nur eine einzige schnelle Bewegung machte.
Kazuo stieß ein leises Lachen aus. „Ja, vielleicht war es tatsächlich ein Zufall. Aber was hast du getan, um deinen Fehler wieder gutzumachen? Zuerst wolltest du dich durch einen Freitod aus der Affäre ziehen. Denkst du nicht auch, dass ich schon genügend Selbstmorde am Hals hatte? Wahrscheinlich hätte man einen Weg gefunden, mir deinen auch noch anzuhängen! Als es nicht funktionierte, bist du weggelaufen und nie mehr aufgetaucht. Eine schöne Art, Verantwortung zu zeigen! Du bist einfach abgehauen, und es hat sieben Jahre gedauert, bis wir deine Spur wiedergefunden haben. In Deutschland, in einer … Schule des Okkulten … als Madoka Tanigawa. Wo warst du in der Zwischenzeit? Du kannst nicht immer in Deutschland gewesen sein. Deine Kampfkünste sind beeindruckend – ich habe sie selbst gesehen. Das können nicht nur die Jûdô-Kurse bewirkt haben, die du in Japan besucht hast. Du hast schon in Japan neben Englisch auch Deutsch und Chinesisch gelernt. Warst du in China? Hast du dir dort auch einen falschen Pass besorgt?“
Wieder blieb ihm Madoka die Antwort schuldig. Seine Vermutung traf tatsächlich ins Schwarze. Wie hatte er das herausgefunden? Wie konnte er gesehen haben, wie sie kämpfte? Das klang, als hätte er sich auf Falkengrund versteckt oder dort im Geheimen Kameras installiert. Beides war schlichtweg unmöglich.
„Ich habe ein Geschenk für meine kleine Schwester“, sagte er unvermittelt. Madokas Körper spannte sich, denn sie befürchtete, im nächsten Augenblick Bekanntschaft mit der Waffe zu machen, die er für seine Rache verwenden wollte. Doch der Gegenstand, den er hinter seinem Rücken versteckt hatte und nun auf ihre Bettdecke legte, war keine Waffe.
Es war ein Buch, ein kleines, altes japanisches Taschenbuch.
Die schummrige Beleuchtung reichte, um es ansehen und darin lesen zu können. Madoka nahm es in die Hand, und als sie das Cover sah, überkam sie ein merkwürdiges Gefühl. Das Gefühl, das man hat, wenn man etwas wiedersieht, was man in frühster Kindheit einmal gesehen hat. Solche Dinge hinterlassen eine besondere Art von Erinnerung, eine Erinnerung, die nicht nur geistig ist, nicht einfach nur eine abgespeicherte Information, sondern ein Bestandteil des ersten, frühsten Weltbilds und der eigenen
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