Falkengrund, Schule des Okkulten - Episode 3 Fluch der Liebe
Windstoß hätte es die Frau durchschauern müssen, wenn er sie testete. Auch als er gestern Sir Darren die Hand gedrückt hatte, war der Schutzengel nicht da gewesen. Es gab zwei Erklärungen dafür. Entweder alle Menschen in diesem Schloss waren längst von ihm erfasst worden, in Arturs Abwesenheit, oder aber ...
... Margarete Maus hatte ihn gebannt.
Artur war die aufgedrehte Frau mit den üppigen Formen und den langen blonden Haaren nicht unsympathisch gewesen. Und natürlich war er ihr dankbar, dass sie mit ihren Methoden Madoka vor dem Einfluss des gnadenlosen Schutzengels gerettet hatte. Mit Methoden, die offenbar magischer Natur waren.
Hätte sie es nicht getan, wäre das Mädchen jetzt vermutlich tot, und Artur hätte sich als ihr Mörder fühlen müssen. Auch wenn er selbst nichts getan hatte.
Doch die Macht, die die Frau zu haben schien, war ihm unheimlich. Sie war ohne Zweifel eine Art Hexe. Artur war nicht sicher, ob er jemals an Hexerei und Zauber geglaubt hatte. Es war eher ein unbestimmter religiöser Glaube, der ihn erfüllte, wenn er seinen Schutzengel bei sich spürte – das Gefühl, die hütende Hand einer riesigen, ungreifbaren Macht über sich zu haben.
Aber was Margarete Maus getan hatte, war etwas anderes gewesen: Hexenzauber. Eine Art Beschwörung, ein Bannspruch, was auch immer. Seit er Zeuge dieses Vorgangs geworden war, hatte sich das Bild gewandelt, das er von sich und der Welt hatte. Sein bisheriges Bild machte keinen Sinn mehr.
Wenn es Gott war, der ihm den Schutzengel an die Seite gestellt hatte, wie konnte ihn diese Frau dann ausschalten?
Er mochte das Gefühl nicht, das dieser Gedanke in ihm auslöste. Ja, er war gekommen, um mehr über sich zu erfahren. Aber nicht auf diese Weise.
Artur blieb vor der Tür stehen, hinter der die verletzte Madoka in ihrem Bett ruhen musste. Er wusste, dass er handeln musste, ehe ihn jemand entdeckte.
Zufällig hatte er mitbekommen, wie der Arzt am Morgen bei ihr gewesen war. Er würde längst gegangen sein. Ihre Zimmergenossin Isabel hielt sich zweifellos unten im Seminarraum auf und genoss Dr. Konzelmanns Unterricht. Die Japanerin musste alleine in ihrem Zimmer sein.
Aber der Korridor war kerzengerade. Wenn einer der Dozenten aus seinem Zimmer kam und ihn bemerkte ... Sir Darren stand in dem Ruf, die meiste Zeit in der Bibliothek zu verbringen. Aber war der Brite auch jetzt dort, in diesem Moment? Sollte er sich davon vergewissern?
Ohne anzuklopfen, drückte Artur die Klinke hinab.
6
Madoka Tanigawa war tot.
Nein. Sie atmete. Aber sie sah lebloser aus als jede Leiche, die Artur je gesehen hatte.
Ihre weiße Haut hatte einen bläulichen Stich. Das war nicht die Farbe von Puder – es war die Farbe, die jene grotesken Tiere hatten, die ihr Leben blind in lichtloser Finsternis verbrachten. Nicht nur ihre Haut schien weiß zu sein – irgendeine bizarre Eigenschaft des Lichts erweckte den Eindruck, ihr Fleisch selbst müsse diese bläulich-weiße Qualität haben.
Ihre geschlossenen Augen waren von dunklen Schatten bedeckt, ihr Gesicht rund und gleichzeitig schmal, die Wangen deutlich hervortretend.
Sie sah nicht ausgemergelt aus wie Michael Löwe. Keine Falten auf dem kindlichen Gesicht. Unterernährung war ein Zeichen der Lebenden, wie die Fettleibigkeit auch. Dieses Geschöpf schien zur Geisterwelt zu gehören, ein bloßes schimmerndes Bild, ein farbloses Hologramm, ein dreidimensionaler Schatten.
Einzig die vollen, dunkelroten Lippen passten nicht zu diesem Wesen. Das ganze Blut in ihrem Körper schien dort konzentriert zu sein. Die Lippen bewegten sich, öffneten sich zu flachen Atemzügen und zu einem fernen, kaum hörbaren Stöhnen.
Artur kam sich bizarrerweise vor wie ein Mörder, der auf sein Opfer blickt und dessen Tod nicht fassen kann.
Er schloss die Tür lautlos hinter sich und setzte sich auf den Stuhl, der an ihrem Bett stand. Es irritierte ihn, dass sie davon nicht erwachte. Er hatte damit gerechnet, dass sie sich aufrichten und schreien würde, sobald ein Fremder ihr Zimmer betrat. War sie wirklich so hilflos? Oder spielte sie das nur?
Die Bettdecke reichte ihr bis zur Brust, und ihre Arme lagen darauf, die Ellbogen leicht angewinkelt, ein großformatiges, aufgeschlagenes Tagebuch zwischen ihren Händen. Wie die Köchin gesagt hatte – die Einträge waren in japanischer Schrift verfasst, unlesbar für Artur.
Nichts an ihr wirkte gefährlich – nichts und alles. Sie war ihm fremd wie ein Wesen von einem anderen
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