Falkengrund, Schule des Okkulten - Episode 8 Exquisite Corpse
sich in Richtung Rheinstetten.
Er trug Fred Wandels weiße Dienstkleidung. Sie war ihm um mehr als zehn Nummern zu groß, aber das kümmerte ihn nicht. Die Schuhe hatte er so fest zugeschnürt, dass sie ihm trotz der unpassenden Größe nicht von den Füßen fielen, und in den Gürtel hatte er kurzerhand ein neues Loch gedrückt, um ihn eng genug schnallen zu können. All das ging ihm mit Leichtigkeit von der Hand. Er war stark geworden, stärker als er je gewesen war. Und seine Hände waren geschickt, seine Instinkte und eine innere Kreativität hellwach – auch wenn es ihm erstaunlich schwer fiel, über bestimmte Dinge nachzudenken, Gedanken festzuhalten.
Zu Fuß machte er sich auf den Weg. Das Gebäude zu verlassen, stellte keine Schwierigkeit dar. Er grüßte den Pförtner höflich. Der junge Mann versuchte nach Kräften, zwei ältere Damen davon zu überzeugen, dass der Chefarzt ihrer Abteilung bereits Feierabend hatte und er sich auf keinen Fall heute noch von ihnen auf ein Glas Sekt einladen lassen würde – gelungene Operation hin oder her. Er wunderte sich weder über die schlotternde Kleidung noch über die heiser krächzende Stimme des vermeintlichen Pflegers. Niemand sah dem Weißgekleideten nach, als er das Klinikum verließ.
Hans Colm zog es nach Südwesten, durch die Stadtteile Mühlburg und Grünwinkel hindurch. Es ging gegen neunzehn Uhr, und noch waren eine Menge Menschen auf den Straßen unterwegs. Menschen, von denen jeder auf die eine oder andere Weise mit sich selbst beschäftigt war.
Hans hatte ein merkwürdiges Gefühl dabei, durch diese Welt zu gehen. Er erkannte manches wieder, erinnerte sich, und Ansätze von Emotionen erwachten in ihm. Trotzdem blieben die Eindrücke flüchtig, oberflächlich und seltsam dünn . Er verspürte kein Interesse, mit diesen fremden Menschen in Kontakt zu treten. Etwas nagte bohrend in seinem Inneren, und es war so schwarz wie der Kaffee, den er getrunken hatte.
Bis nach Rheinstetten waren es sechs, sieben Kilometer, vorbei am Flughafen Forchheim und ...
Er hatte das Volkstheater in Grünwinkel erreicht, als ihm etwas einfiel.
Charlie Colm.
Der Mann, der mit der Eisenstange über ihm gestanden hatte, als er in einem See aus Blut versunken war.
Sein Bruder Charlie.
Sein Teilhaber und Mörder.
Etwas zog ihn weiterhin nach Südwesten, wo die Kaffeebrauerei stand. Doch eine zweite Stimme schien ihn jetzt aus einer anderen Richtung zu rufen. Es war, als höre man eine Radiosendung aus der Wohnung nebenan unfreiwillig mit, weil der Nachbar den Ton zu laut eingestellt hatte.
Jemand sprach sehr, sehr laut aus östlicher Richtung. So laut, dass Hans sich wunderte, warum die anderen Leute sich nicht erschrocken umwandten. Sie schien es nicht zu stören.
Der Jemand sagte „Entspann dich. Entspann dich einfach. Stirb den kleinen Tod für mich, mein Liebes. Den kleinen Tod.“
Hans kannte die Stimme. Sie gehörte Charlie.
Hans mochte nicht, was sein Bruder da sagte. Es bereitete ihm Unbehagen, dass er so etwas Schreckliches durch die ganze Stadt schrie.
War nicht Hans für Charlie einen Tod gestorben? Für Charlie mochte es ein kleiner Tod gewesen sein, etwas Unbedeutendes, ein bescheidener Gefallen, den Hans ihm getan hatte.
Für Hans war es ein großer, schlimmer Tod gewesen.
Für einige Minuten stand er unschlüssig an einer Straßenkreuzung und fühlte sich hin und her gerissen zwischen dem köstlichen Schwarz, das in Rheinstetten auf ihn wartete, und dem angedrohten kleinen Tod weiter östlich von ihm. Er brauchte das Schwarz, er brauchte es, um den großen Tod in seinem Inneren zurückzudrängen, um ihn winzig klein zu machen, so klein, dass er ihn beinahe vergessen konnte.
Ein Schwächegefühl durchströmte ihn, und für einen Moment schien sein Körper in seine Einzelteile zu zerfallen, hier, mitten auf der Straße. Dann hatte er das Gefühl überwunden, für den Augenblick zumindest.
Vielleicht wollte Hans nicht vergessen.
Vielleicht war es nicht gut, alles zu vergessen. Die Lügen und die Eisenstange und den Schmerz und das Blut und die Dunkelheit.
Er wandte sich nach Osten, durchquerte das Industriegebiet Karlsruhe-West und hielt weiter nach Osten. Wo Charlie wohnte ...
8
Charlie liebte exotische Früchte.
In diesem Moment hatte er eine solche Frucht im Mund, zwischen den Zähnen. Sie schmeckte ein wenig salzig und dennoch süß. Sie war winzig klein und fest, wie eine junge Erbse. Charlie kniete neben dem Bett, als er sie
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