Falkengrund, Schule des Okkulten - Episode 8 Exquisite Corpse
der Trumpf Nummer Siebzehn.
Siebzehn Jahre alt war Estrella gewesen, als er sie kennen gelernt hatte.
Der Name des siebzehnten Trumpfes war ... „der Stern“.
Die deutsche Übersetzung eines der wenigen spanischen Worte, die er kannte ...
„Estrellaaaaaa!“ Mit diesem Schrei auf den Lippen sprang er über den Tisch, stieß Luisa zur Seite, riss die Tür auf und stürzte aus dem Zimmer.
9
Melanie saß an einem der PCs im Vorraum der Bibliothek, als sich eine Hand auf ihre Schulter legte.
Sie erschrak, zunächst ein bisschen und dann noch mehr. Neben ihr stand Margarete Maus.
„Geht’s wieder besser?“
Melanie hatte Schwierigkeiten, die Frage zuzuordnen. Richtig, sie hatte sich vor einer Stunde vom Abendessen abgemeldet und behauptet, sie fühle sich nicht besonders. In der Zwischenzeit hatte sie einen fruchtlosen Diebstahlsversuch in Margaretes Zimmer unternommen und war dabei um ein Haar von Madoka ermordet worden.
„Besser“, brachte sie heiser hervor. Alles in ihr drängte sie, sich Margarete anzuvertrauen. Nachdem Madoka sie freigegeben hatte, war ihr erster Gedanke gewesen, dass die Schule von dem Vorfall erfahren musste. Die Japanerin hatte eine deutliche Morddrohung gegen sie ausgesprochen und diese beinahe in die Tat umgesetzt. Die Dozenten mussten davon in Kenntnis gesetzt werden. Margarete würde Melanie gewiss vergeben, wenn sie ihr beichtete, dass sie in ihrem Zimmer gewesen war. Sie würde ihre Beweggründe verstehen. Viel wichtiger war, jeden einzelnen Bewohner von Falkengrund über die Gefahr aufzuklären, die unerkannt in ihrer Mitte lauerte.
Und doch – als Margarete nun neben ihr stand, kam kein Wort über ihre Lippen. Sie fand einfach nicht den richtigen Einstieg. Plötzlich fürchtete sie sich vor so vielen Dingen. Davor, dass das gute Verhältnis zu Margarete zerbrechen könnte. Dass Madoka blutige Rache üben würde, wenn sie publik machte, was geschehen war.
Sie konnte nichts sagen. Nicht jetzt. Vielleicht würde sie es zu einem späteren Zeitpunkt können.
„Recherchen?“, erkundigte sich die Dozentin freundlich. Sie sah auf den Bildschirm. „ Cadavre exquis ? Exquisite corpse, wie die Engländer sagen? Oh, was hast du denn mit den alten Surrealisten zu schaffen?“
„Der Begriff fiel in ... einem Gespräch“, antwortete Melanie. „Ich hatte ihn nie zuvor gehört und wollte nachsehen, was er bedeutet.“ Wieder war die Versuchung groß, alles zu beichten.
„Dann sieh zu, dass dich Sir Darren nicht erwischt.“
„Wieso?“ Melanie erschrak. „Was hat er damit zu tun?“
„Gar nichts“, lächelte Margarete und schien sich über Melanies Erschrecken zu amüsieren. „Er würde dir lediglich eine Predigt darüber halten, dass wir eine Wand voller Lexika haben, um präzisere Informationen zu erhalten als in dieser ... Kiste.“ Sie zwinkerte schalkhaft.
Melanie konnte nicht richtig lachen.
„Ein interessantes Thema übrigens“, fuhr die Dozentin fort. „Ein Spiel, das die französischen Surrealisten um 1927 dem Volk abschauten und zu einer Kunstform entwickelten. Man schreibt ein Wort auf einen Zettel, knickt ihn um, und der andere schreibt weiter, ohne zu wissen, was dort steht. Der erste Satz, der auf diese Weise entstand, hieß angeblich: ‚Le cadavre exquis boira le vin nouveau – der kostbare Leichnam wird den neuen Wein trinken.’ Daher erhielt das Spiel seinen Namen. Man kann das auch mit Zeichnungen machen. In welchem Zusammenhang fiel der Begriff?“
Melanie schluckte. „Das ... habe ich vergessen.“
„Wirklich? Ich schätze eher, du willst es mir nicht verraten. Die Surrealisten beschäftigten sich übrigens auch mit dem Wahnsinn und dem Unterbewussten. Sie experimentierten mit Halluzinogenen, interessierten sich für Grenzerfahrungen und für den Spiritismus. Ihre Hauptabsicht war es aber, über solche Spiele die Persönlichkeit einer Gruppe zu offenbaren.“
„Hat eine Gruppe eine Persönlichkeit?“
Margarete schmunzelte. „Ich weiß, es klingt widersinnig. Aber bestimmte Teilgebiete der Magie beschäftigen sich mit ähnlichen Themen. Der Mensch sieht immer nur einen Teil der Wirklichkeit, so wie von den Teilzeichnungen im Spiel cadavre exquis immer nur wenige Millimeter zu sehen sind. Anfang und Ende des Kunstwerks haben, nüchtern betrachtet, nichts miteinander zu tun, und doch hängen sie zusammen. Wenn ein Voodoo-Priester eine Nadel in eine Puppe steckt, dann hat das nach Ansicht der Wissenschaft nichts mit dem Menschen zu tun,
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