Falkenhof 01 - Im Zeichen des Falken
können.
»Ich werde darüber nachdenken, Tobias. Lass uns eine Nacht darüber schlafen.«
»Was gibt es denn groß darüber nachzudenken?«, begann Tobias. »Vater hätte bestimmt nichts …« Er führte den Satz nicht mehr zu Ende, denn in diesem Moment wurden Stimmen im Innenhof laut, und dann war Hufschlag zu hören.
Ein Reiter.
Heinrich Heller nahm die günstige Gelegenheit wahr, das Gespräch an diesem Punkt zu unterbrechen und seine endgültige Entscheidung noch etwas hinauszuzögern. Schnell stand er auf und trat ans Fenster. »Ah, das ist der junge Schwitzing! Bestimmt bringt er eine Nachricht, wie es seinem Vater geht!«
Und bevor Tobias ihn noch zurückhalten konnte, eilte er schon zur Tür hinaus in den Innenhof, wo die hohen Mauern lange Schatten warfen. Bald würde die Dämmerung hereinbrechen. Der junge Schwitzing musste sich sputen, wenn er noch vor der Dunkelheit wieder in Mainz sein wollte.
Tobias zog eine Grimasse, war jedoch alles in allem sehr zufrieden mit sich und dem, was er erreicht hatte. Er wusste, dass sein Onkel sich nicht sperren und ihn nach Paris gehen lassen würde. Nur Monsieur Roland musste noch seine Zustimmung geben, aber das war bestimmt nur eine Formsache, und im März konnte er dann in Paris sein. Frühling in Paris! Er malte es sich schon aus, wie es sein würde. Schade nur, dass er so wenig über Andre wusste. Vater hatte nicht viel von ihm geschrieben. Aber warum sollte er sich nicht mit ihm verstehen? Sprachschwierigkeiten gab es keine. Doch auch wenn er ein wahres Ekel sein sollte, würde ihn das nicht hindern, nach Paris aufzubrechen. Was war schon Mainz gegen diese Stadt?
Nicht viel mehr als ein Kuhdorf mit einer Festungsmauer und einer Menge Soldaten!
Tobias fuhr aus seinen euphorischen Gedanken auf, als sein Onkel die Tür vehement aufstieß und in die Werkstatt stürmte. Er war regelrecht außer Atem und sein Gesicht strahlte vor überschwänglicher Freude. Die Nachricht, dass sein Hauslehrer Karl Maria Schwitzing wieder genesen war, konnte schwerlich der Grund für diese Begeisterung sein. Doch was war es dann?
»Pagenstecher ist zurück!«, rief sein Onkel und wedelte mit einem Brief, den der junge Schwitzing gebracht haben musste.
Tobias sah ihn verständnislos an. »Wer?« Der Name rief nur eine ganz schwache Erinnerung in ihm wach. Möglich, dass sein Onkel ihn schon einmal erwähnt hatte, doch nie in einem wirklich interessanten Zusammenhang. Gehörte er vielleicht zu den Männern, mit denen er sich in unregelmäßigen Abständen traf, zu dem verbotenen Geheimbund?
»Arnold Pagenstecher! Er ist aus Frankfurt zurück!« Heinrich Heller lachte befreit. Das war Rettung in höchster Not! Jetzt würde Tobias ganz andere Gedanken haben als Paris!
»Morgen fahren wir nach Mainz! Pagenstecher hat ihn gebracht! Endlich ist er da!«
»Wer ist Pagenstecher und was hat er gebracht?«, fragte Tobias verstört.
»Den Ballon! Unseren Ballon!«
Paris kann warten
Beim ersten Licht des neuen Tages war Tobias wach. Kein langes Mahnen war nötig, um ihn heute aus dem warmen Bett zu bringen. Und er brauchte auch nicht erst das Gesicht in das eiskalte Wasser der Waschschüssel zu tauchen, um die Schläfrigkeit zu vertreiben und vollends wach zu werden.
Sowie er an den Ballon dachte, war er hellwach. Sein Onkel hatte sich in seiner Tuchfabrik in Frankfurt einen Ballon nach seinen genauen Angaben zurechtschneiden und nähen lassen, der bald vom Falkenhof aufsteigen würde. Natürlich mit ihm, Tobias, an Bord!
»Pagenstecher hat unseren Ballon gebracht.« Jawohl, das waren die Worte seines Onkels gewesen! Und Onkel Heinrich gehörte nicht zu denjenigen, die gedankenlos etwas daherschwätzten. Bei ihm war ein Wort noch ein Wort. Und das hieß, dass er ihn von vornherein in die Pläne für seine Ballonfahrten mit eingeschlossen hatte.
Buchstäblich beflügelt schlug er die Daunendecke zurück und sprang aus dem Bett. Schnell wusch er sich an der Waschkommode. Das Wasser aus dem Porzellankrug, das ihm sonst stets den Atem nahm und ihm am ganzen Körper eine Gänsehaut verursachte, machte ihm an diesem Morgen überhaupt nichts aus. Er prustete nur fröhlich und fuhr noch mit halb nassem, tropfendem Gesicht aus seinem knöchellangen Nachthemd aus Flanell.
Im Handumdrehen war er angezogen. Und diesmal versäumte er es auch nicht, den Nachttopf, dessen Deckel mit Monden und Sternen bemalt war, unter dem hochbeinigen Bett hervorzuziehen und ihn unten im Hof zu
Weitere Kostenlose Bücher