Falkenhof 01 - Im Zeichen des Falken
einmal, dass die große zusammengefaltete Plane auf der Ladefläche gut beschwert war und nicht verrutschen konnte. Indessen brachten Agnes und Lisette aus der Küche die letzten, im Ofen erhitzten und mit Wolltüchern umwickelten Ziegelsteine und legten sie zu den anderen auf den Boden der Kutsche. Die in den Ziegelsteinen gespeicherte Hitze würde das Innere des Wagens angenehm wärmen und verhindern, dass sie mit eisgefrorenen Füßen in Mainz eintrafen. Auch Sadik, der die Kutsche lenken würde, bekam eine Lage heißer Ziegelsteine auf das Trittbrett des Kutschbockes, zusätzlich zu den Decken. Er war so dick in warme Sachen eingemummt, dass nicht mehr viel von ihm zu sehen war. Sogar um den Kopf hatte er sich ein schwarzes Wolltuch geschlungen, groß wie ein halber Umhang, sodass von seinem Gesicht nur noch die Augen zu sehen waren.
Tobias nahm bei seinem Onkel auf der gepolsterten Rückbank Platz, der Schlag fiel zu, die Kutsche ruckte an und rumpelte durch das Tor der Allee hinunter.
Endlich ging es los!
Unsterblicher Ruhm für zwei Verbrecher?
Sie hatten den Ober-Olmer Wald hinter sich gelassen, waren hinter dem Dorf Marienborn auf die Überlandchaussee eingebogen, die den Namen Pariser Straße trug, und näherten sich mittlerweile mit flottem Tempo der Abzweigung nach Bretzenheim. Sadik ließ den Braunen laufen, der nach langen, faulen Tagen im Stall ohne Zweifel Vergnügen darin fand, mit stolz erhobenem Schweif durch den Neuschnee nach Mainz zu traben. Im gedämpften Klang der Hufe zog die verschneite, friedliche Landschaft unter einem klaren Winterhimmel vorbei. Kaum ein anderes Gefährt war ihnen bisher begegnet. Nur hier und da sahen sie ein Gehöft abseits der Straße, geduckt unter dem Schnee, und die dünne Fahne, die aus einem Kamin fast lotrecht aufstieg und erst weit über dem Anwesen verwehte.
»Nun sag schon endlich, Onkel Heinrich«, drängte Tobias, die Füße auf den warmen Ziegelsteinen und eine Decke um die Hüften gewickelt. »Was ist es für ein Ballon und wieso hast du ihn in Frankfurt fertigen lassen? Wie groß ist er? Und wie sieht die Gondel aus?«
»Eine Menge Fragen für einen noch so frühen Morgen«, neckte ihn Heinrich Heller. »Aber bevor ich dir erzähle, was du zu erfahren nicht erwarten kannst, wirst du mir ein, zwei Fragen beantworten müssen. Die Gelegenheit ist günstig, herauszufinden, wie gut der liebe Schwitzing dir die neuere Geschichte vermittelt hat – und was du davon behalten hast.«
»Wovon denn?«
»Von den Anfängen der Ballonfahrt natürlich«, sagte sein Onkel vergnügt. »Wer war es, der den ersten Ballon in die Lüfte gebracht hat?«
»Das waren die Brüder Montgolfier im Jahr …«, Tobias überlegte kurz, »… 1783?«
»Exakt! Michael Joseph und Etienne Jacques, zwei Papierfabrikanten aus Annonay bei Lyon. Und der erste richtige Ballon, den sie mittels Heißluft aufsteigen ließen, war noch aus Leinwand und Papier. Aber mitgefahren ist in dem Ballon noch keiner. Die ersten Passagiere der Lüfte waren ein Hahn, eine Ente und ein Schaf. Sie befanden sich in einem Käfig, der an dem Ballon namens Martial hing. Diesen ließen die Gebrüder Montgolfier am 19. September in Anwesenheit von König Ludwig XVI. und Marie Antoinette sowie vor angeblich 130.000 Schaulustigen über Versailles in die Lüfte steigen. Dass er schon acht Minuten nach seinem Aufstieg über einem Wäldchen nördlich des königlichen Schlosses wieder niederging, änderte nichts an der Sensation und dem Triumph der Brüder.«
»Aber sie waren nicht die Ersten, die mit einem Ballon geflogen sind, nicht wahr?«, glaubte sich Tobias erinnern zu können.
»Nein, den ersten Menschenflug der Geschichte vollbracht zu haben, können Pilátre de Rozier und der Marquis d’Arlandes für sich in Anspruch nehmen«, erzählte sein Onkel. »Pilátre de Rozier, der erste Luftnavigator, war ein neunundzwanzigjähriger Physiker, und sein Freund, der Marquis, ein aus dem aktiven Dienst ausgeschiedener Infanterie-Major mit höfischen Ambitionen. Und was konnte mehr die Aufmerksamkeit des Königs erregen als der Teilnehmer des ersten Menschenfluges? Es war in der Tat eine großartige und einmalige Gelegenheit, sich vor der Welt in Szene zu setzen, und die hat er sich auch nicht entgehen lassen.« Ein spöttischer Ton schwang in seiner Stimme mit. »Aber welche tieferen Gründe sie auch bewogen haben mochten, Mut war beiden nicht abzusprechen, denn damals steckte der Ballonflug ja wahrlich
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