Falkenhof 01 - Im Zeichen des Falken
das?«
»Horaz.«
»Gut, gut!«, lobte Heinrich Heller zufrieden. »Ich sehe, unser lieber Schwitzing hat dir die Lateiner trefflich ans Herz gelegt.«
Er zwinkerte ihm zu.
»Aber vor die Ewigkeit des Nachruhms haben die Götter die Überlieferung gesetzt«, hielt Tobias ihm schlagfertig vor. »Auch die genialste Schrift taugt nichts, wenn sie verloren geht. Und die meisten Schriften sind verloren gegangen!«
Heinrich Heller hob die Augenbrauen. »Nicht schlecht, mein Junge. Das ist ein Wort, das ich gelten lassen muss. Aber nun setz dich und lass hören, was Seneca uns zu sagen hat.«
Tobias sah sich nach einer zweiten Sitzgelegenheit um und ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Außer diesem einen Faktoreitisch gab es noch zwei weitere, die gleichfalls mit allerlei wissenschaftlichen Gerätschaften voll gestellt waren. Diese drei Tische standen so zueinander, dass sie von der Decke aus gesehen den
Buchstaben H bildeten. Sie berührten sich jedoch nicht, sodass man zwischen ihnen hindurchgehen konnte.
Dunkle Regale, unterteilt in dutzende von Schubladen der verschiedensten Größe, bedeckten einen großen Teil der hinteren Wand. Hier bewahrte sein Onkel viele seiner Chemikalien auf sowie Mineralien und einen Teil seiner Insekten- und Muschelsammlung.
Früher hatte dieser große Raum mit dem kreuzförmig gemauerten Deckengewölben einmal ganz anderen Zwecken gedient, nämlich landwirtschaftlichen. Sein Onkel nutzte ihn nun aber nicht allein als Experimentierwerkstatt, sondern offenbar auch als Lagerraum. Denn am hinteren Ende, dort wo eine breite Tür auf den Innenhof hinausführte, standen schon seit Jahresbeginn mehrere dutzend Fässer aufgestapelt. Und etwas getrennt davon lagerten fünfzehn große Korbflaschen, von denen eine jede gut und gern ihre zwanzig Liter fasste. Sie standen auf einer dicken Lage Stroh und auch zwischen die einzelnen Flaschen war Stroh gestopft.
Tobias hatte sich nicht sonderlich dafür interessiert, was sein Onkel mit ihnen bezweckte, denn das Merkwürdige war bei ihm die Norm. Zudem wusste er, dass sein Onkel über Experimente und Vorhaben, die er noch nicht praktisch in Angriff genommen hatte, kein Wort verlor – und auch nicht daran dachte, Fragen zu beantworten. Doch am Tag der Anlieferung hatte er zufällig aufgeschnappt, dass es sich in den Fässern um Eisenspäne handelte. Und die großen Korbflaschen enthielten irgendeine Säure, weshalb sie auch das Giftzeichen aufgemalt trugen, den Totenkopf mit den gekreuzten Knochen. Nun, er würde schon erfahren, was sein Onkel mit Tonnen von Eisenfeilspänen und solchen Mengen Säure vorhatte.
Tobias entdeckte einen alten Lehnstuhl mit geflochtener Rückenlehne, holte ihn aus der Ecke und setzte sich an das untere Ende des Tisches.
»Dem Franzosen Niepce ist es schon vor ein paar Jahren gelungen, mit der camera obscura Bilder zu machen«, murmelte sein Onkel vor sich hin und blickte dann auf. »Aber weißt du, wie lange er die Platte hat belichten lassen müssen?«
Tobias zuckte mit den Schultern.
»Gut acht Stunden! Das war 1827 in seinem Landhaus in Châlons-sur-Saône. Ein Bild aus seinem Arbeitszimmer. Aber doch noch sehr verschwommen. Daguerres Bilder sind da schon schärfer, auch wenn sich dieser als Wissenschaftler gebärdende Seiltänzer und Lebemann mit fremden Federn schmückt«, murmelte er mit widerwilliger Anerkennung in der Stimme und fuhr sich nachdenklich über den Bart. »Aber befriedigend ist das alles noch nicht. Nein, noch längst nicht! Es muss doch machbar sein, dass die Bilder nicht seitenverkehrt wiedergegeben werden und vor allem nicht so schrecklich lange Belichtungszeiten brauchen … Kreideschlamm und Chlorsilber geschichtet …« Er fuhr aus seinen Gedanken auf. »Tobias! Worauf wartest du? Lass hören, was Seneca seinem Freund Paulinis ›Über die Kürze des Lebens‹ geschrieben hat.«
Tobias schlug mit einem unterdrückten Seufzer das Buch auf und begann den lateinischen Text zu übersetzen. Er kam ihm ohne Stocken von den Lippen, doch es klang unverhohlen lustlos, eben nach einer lästigen Pflicht, der er sich nun mal leider nicht entziehen konnte.
»Die Zeit unseres Lebens ist nicht kurz – nur vertan haben wir viel davon. Das Leben ist lang genug und reicht aus zur Vollendung größter Taten, wenn es als Ganzes gut angelegt würde; sobald es aber durch Verschwendung und Achtlosigkeit zerrinnt, sobald es nur für schlechte Zwecke verwendet wird, dann merken wir erst, vom äußersten
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