Falkenhof 01 - Im Zeichen des Falken
leeren, wie Onkel Heinrich es ihm aufgetragen hatte. Die Vorhaltung, dass dafür doch Lisette da war, hatte dieser nicht gelten lassen. Auch wenn man ihn auf Falkenhof mit »junger Herr« anspreche, so sei er doch noch längst kein Herr, der sich von vorn bis hinten bedienen lassen könne, hatte er gesagt. Und auch, dass es ihm gar nicht schaden könne, diese Dinge vorerst noch selbst zu erledigen, etwa sein Zimmer in Ordnung halten und das Nachtgeschirr am Morgen leeren. Nur dann könne er später den Wert der Dienste, die andere ihm leisteten, entsprechend würdigen.
An diesem Morgen fand Tobias nichts daran auszusetzen, selbst mit dem bunten Porzellantopf die Treppe hinunterzuflitzen. Was war schon dabei? Stand er nicht über diesen Kleinigkeiten? Zumindest bald! Hoch in die Lüfte würden sie steigen, und er würde zu den ganz wenigen Menschen zählen, die die Welt aus der Luft betrachten und sich ein wenig den Vögeln gleich fühlen dürften!
In der Nacht hatte es geschneit, wie der Franzose prophezeit hatte. Die Dächer des Gevierts trugen weiße Umhänge, als hätte sie jemand in der Nacht mit glänzenden Seidentüchern verhängt. Pulverig feiner Schnee bedeckte auch den Innenhof etwa daumenhoch. Doch er lag hier trotz der frühen Morgenstunde nicht mehr so unberührt wie auf den Dächern und Fenstersimsen. Die Spuren derber Stiefel durchzogen den weißen Teppich mehrfach vom Nordflügel hinüber zu den Stallungen und der Kutschenremise im Osttrakt. Jakob Weinroth war schon lange vor ihm auf den Beinen gewesen und hatte die Pferde versorgt. Jetzt drang sein nicht eben melodiöses Pfeifen aus dem Kutschenhaus. Er hatte an diesem Morgen gut zu tun, musste er doch nicht nur die Kutsche fahrbereit machen, sondern auch das schwere Fuhrwerk, und er war ein Mann, der auf seine Arbeit hielt und sie sehr genau nahm.
Tobias war der Erste am Frühstückstisch – für eine schier endlos lange Zeit, wie es ihm schien. Ungeduldig wartete er, dass sein Onkel und Sadik erschienen. Doch die hatten es wohl nicht so sehr mit der Eile. Im Gegenteil. Sie ließen ihn warten. Wie konnten sie an solch einem Tag nur so herumtrödeln? Wo blieben sie denn bloß? Die Sonne schien ja schon durchs Fenster!
Agnes brachte ihm schon mal eine Tasse heißen Kakao, konnte es sich jedoch nicht verkneifen, ihn ein wenig zu necken. »Ist der junge Herr heute mal aus dem Bett gefallen? Oder steht etwas ganz Besonderes auf dem Tagesplan?«
»Du weißt ganz genau, dass wir nach Mainz wollen, Agnes. Also hör auf damit!«, erwiderte Tobias voller Unruhe. »Sag mir lieber, wo mein Onkel bleibt.«
»Lisette war vor kurzem bei mir in der Küche, um heißes Rasierwasser für den Herrn Professor zu holen. Es wird also nicht mehr lange dauern«, beruhigte sie ihn.
»Lange ist sehr relativ, Agnes! Im Rasieren hat mein Onkel die Ruhe weg – wie auch in manch anderen Dingen«, brummte Tobias und trank seinen Kakao.
Endlich hörte er Schritte im Flur vor dem Esszimmer und dann erschien sein Onkel. Er war in einen Anzug aus warmer, kastanienbrauner Wolle gekleidet. Darunter blitzte extravagant eine honiggelbe Weste hervor, und burgunderrot leuchtete seine Krawatte. Die Kanten seines grauen Bartes waren makellos gerade und beigeschnitten und die Wangen sauber ausrasiert.
»Schlecht geschlafen, mein Junge?«, zog auch er ihn auf, während er sich ans Kopfende des ovalen Tisches setzte.
»Weshalb sollte ich?«, fragte Tobias zurück, um Gelassenheit bemüht. Zumindest äußerlich.
»Jaja, weshalb auch«, sagte er lachend und zwinkerte ihm zu.
Tobias konnte nicht umhin und stimmte in das Lachen ein. Sein Onkel war an diesem Morgen sprichwörtlich die gute Laune in Person. Mit fast übersprudelnder Gesprächigkeit redete er über alles Mögliche, was ihm einfiel: über den erfolgreichen Freiheitskampf des griechischen Volkes gegen die türkischen Besatzungstruppen, über Lord Byrons Beteiligung an dieser Volkserhebung und seine Gedichte, über Frankreichs kriegerischen Konflikt mit Algier, über das erste Lokomotiven-Wettrennen, das im Oktober letzten Jahres bei Liverpool stattgefunden und das der britische Ingenieur George Stevenson mit seiner Rocket gewonnen hatte, und über die Vorteile eines Röhrenkessels gegenüber anderen Konstruktionen von Dampfkesseln. Über alles Mögliche plauderte er und kam dabei von der Fortpflanzungsgeschwindigkeit des Schalls über die ersten Versuche, eine Schreibmaschine zu bauen, die der badische Forstmeister Karl
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