Falkenhof 01 - Im Zeichen des Falken
denn Erkenntnis ist nicht die Gefährtin des Blinden!«
»Ja, die Geschichte gefällt mir auch«, meinte Tobias, »auch wenn du uns damit zu verstehen geben willst, dass uns wie den Blinden die Erkenntnis fehlt.«
»Das trifft uns alle«, versicherte Sadik. »Allahs göttlicher Ratschluss ist auch uns Blinden ein Elefant.«
Im Gang erklang eine Glocke. Lisette rief zum Abendessen.
»Wie wäre es noch mit einem Rätsel zum Abschluss?«, bat Tobias und sagte zu Jana: »Er kennt ganz tolle arabische Rätsel, bei denen man scharf überlegen muss, wenn man sie lösen will.«
Jana nickte begierig. »Rätsel mag ich.«
Ein verschmitztes Lächeln glitt über Sadiks Gesicht. »Ihr wollt also ein arabisches Rätsel? Dann passt mal auf: ›Mein Lieb, reite auf mir, leg deinen Mund an meine Spalte und neige mich ein bisschen, dass ich mich ergießen kann.‹«
Tobias wagte nicht, Jana anzusehen, weil er dieses Rätsel irgendwie unanständig fand, und er spürte, wie seine Ohren rot wurden.
Doch Jana lachte nur und rief: »Ein Wasserkrug!«
Sadik nickte. »Du bist im Rätselraten besser als der junge Herr. Und nun los, Tobias. Dein Onkel wird hungrig sein und Hunger ist für die Geduld ein genauso wenig guter Gefährte wie Blindheit für den, der nach Erkenntnis strebt!«
»Das hast du ganz bewusst getan!«, sagte Tobias vorwurfsvoll zu ihm, als sie draußen im Gang waren.
»Was?« Sadik gab sich ahnungslos, doch um seine Mundwinkel zuckte es verräterisch.
»Na, ihr gerade so ein Rätsel zu stellen.«
»Was willst du? Es war ein altes arabisches Rätsel.«
Tobias schüttelte den Kopf. »Manchmal gibst du mir Rätsel auf, Sadik!«
»Aiwa? Wieso?«
»Erst machst du so … so geringschätzige Bemerkungen über Zigeuner und Frauen, aber andererseits kümmerst du dich um sie, sitzt stundenlang bei ihr und erzählst ihr Geschichten, und dann wiederum stellst du ihr so ein doch … na ja, anzügliches Rätsel. Daraus werde ich nicht klug.«
»Wie die Männer nicht aus den Frauen, ja?«, zog er ihn auf.
»Aber du magst Jana doch auch!«, sagte Tobias ihm auf den Kopf zu. »Gib es doch zu.«
»Kaffee ohne Rauch ist wie ein Haus ohne Knaben«, antwortete Sadik ihm in Anspielung auf die untergeordnete Rolle der Frau in seiner Heimat. »Doch ein Leben ohne Frauen ist so unwirtlich wie ein Lager ohne Feuer.«
Tobias folgte ihm kopfschüttelnd ins Esszimmer und dachte: ›Sadik ist selbst ein Rätsel!‹
Erster Aufstieg
Die große Segeltuchplane lag in einem unordentlichen Haufen mitten auf dem Bretterpodest. Nur ihre vier Ecken, in die jeweils ein Eisenring eingenäht war, ragten an den Seiten heraus und wiesen zu den Pfosten hin. Von den Masten liefen Seile zur Plattform hinunter mit einem besonderen Haken an jedem Ende. Diese Haken waren in die Eisenringe eingeklinkt. An jedem Verschluss der Haken war ein zusätzliches Seil angebracht, das jedoch viel dünner war als das Zugseil. Es hatte gerade die Stärke einer Kordel.
Tobias, Jakob, Klemens und Sadik standen hinter einem der Masten, das dicke und das mitlaufende dünne Seil in der Hand. Sie schauten zu Heinrich Heller hinüber, der etwas abseits vom Startplatz mit flammend roter Weste in der Mittagssonne stand, und warteten auf seine Anweisung.
»Anziehen! Hoch mit der Plane!«, rief der grauhaarige Gelehrte, als er sah, dass alle bereit waren. Er beschattete seine Augen mit der flachen Hand. »Aber gleichmäßig! Eins! … zwei … drei … vier … ja, gut so … weiter … die Hakenleine nicht zu stramm halten, Klemens! Ja, so ist es richtig! … Sadik! … Du fällst zurück! … Einen Handschlag mehr, wenn ich bitten darf! Gut, jetzt mit den anderen auf gleicher Höhe bleiben! … Ausgezeichnet! … Prächtig! … Es wird!«
Jetzt blieben sie alle im Takt. Keiner zog zu schnell am Seil, keiner zu zögerlich, und die Plane begann sich gleichmäßig zu entfalten. Tobias lachte übers ganze Gesicht, als alle vier Ecken fast auf gleicher Höhe waren und das Segeltuch die Form eines Trichters annahm. In der Mitte der Plane lag ein altes Wagenrad, das noch mit klobigen Steinen beschwert war. Doch das Gewicht der groben Plane samt Wagenrad und Feldsteinen schien kaum mehr als ein paar Pfund zu betragen. Die Flaschenzüge des Mechanikus Reitmaier machten das Hochziehen zu einem wahren Kinderspiel. Leicht und glatt liefen die Seile über die gut geölten Rollen, bis sich die Plane oben über ihnen in zwölf Meter Höhe gespreizt hatte und die Ecken fast
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