Falkenhof 01 - Im Zeichen des Falken
dass Sadik der größte Geschichtenerzähler ist, den ich kenne? Und ich habe schon viele Leute getroffen, die sich darauf verstanden, ein gutes Garn zu spinnen, etwa der Seemann, der mir Unsinn geschenkt hat.«
»Und ob ich das weiß! Mein Vater hat mal gesagt, Sadik könnte nicht nur tausendundeine Nacht lang den Schlaf mit seinen Geschichten vertreiben, sondern auch den Propheten Mohammed blass vor Neid werden lassen, auf dass dieser sich gezwungen sähe, den Koran noch einmal völlig neu zu schreiben«, gab Tobias zum Besten.
»Das Buch der Bücher ist über jede Kritik erhaben«, erwiderte Sadik. »Der Koran ist eine Mahnung für alle Welten. Sure 68, Vers 52.«
Tobias war schon lange genug mit Sadik zusammen, um auch selbst genügend Verse aus dem Koran zu kennen, und so parierte er Sadiks Worte mit einem anderen Koranzitat: »Wäre er von einem anderen als Allah, sie würden gewiss viele Widersprüche darin finden. Sure 4, Vers 82!«
Sadik konnte sich eines Lächelns nicht erwehren. »Für einen Ungläubigen ist es um deine Korankenntnisse gar nicht so schlecht bestellt. Aber komischerweise sind es stets die weniger wichtigen Stellen, die sich deinem Gedächtnis so gut einprägen.«
»Das muss wohl an meinem Lehrer liegen«, scherzte Tobias und wollte dann wissen, worüber sie geredet hatten.
»Über das Schicksal«, sagte Jana, und Tobias sah, wie ihr Blick kurz zu dem Kästchen mit den Tarotkarten ging.
»Und? Was ist dir dazu eingefallen, Sadik?«
»Die Geschichte von einem weisen Mulla namens Nasrudin«, sagte Jana und fügte hinzu: »Ein Mulla ist ein islamischer Geistlicher, das habe ich schon von ihm gelernt.«
»Oh! Die kenne ich noch gar nicht!« Tobias schaute Sadik auffordernd an.
Der Araber erzählte die Geschichte gern noch ein zweites Mal: »Eines Tages kam ein Mann zum Mulla Nasrudin und wollte von ihm wissen, was denn nun das Schicksal sei. Worauf er zur Antwort erhielt: ›Vermutungen, das ist das Schicksal‹. Aber damit konnte der Mann wenig anfangen. Der Mulla erklärte daraufhin, wie seine Antwort zu verstehen sei: ›Nun, du vermutest, alles wird sich so entwickeln, wie du es dir wünschst. Geschieht es dann nicht so, nennst du das Pech. Vermutest du aber, dass etwas Schlechtes deiner harrt, und erweist sich diese Vermutung als falsch, dann gibst du ihr den Namen Glück. Du vermutest immer, dass dieses geschehen und jenes nicht eintreffen werde, weil du nicht weißt, was geschehen wird. Die Zukunft ist dir verschlossen und unbekannt. Dir fehlt es an Erkenntnis. Und wenn es dich dann eines Tages trifft, dann nennst du das Schicksal‹.«
»Schön, nicht?«, sagte Jana. »Aber die mit den Blinden und dem Elefanten fand ich noch besser.«
Tobias brauchte den Araber nicht erst lange zu bitten, sie zu erzählen, denn Geschichtenerzählen war sein Element.
»Ja, es ist auch eine meiner Lieblingsgeschichten«, sagte Sadik. »Also, es gab mal eine Stadt weit hinter Ghor, in der nur Blinde wohnten. Eines Tages kam ein König in diese Stadt und zu seinem Gefolge gehörte auch ein Elefant. Als die Blinden davon hörten, waren sie natürlich begierig darauf, dieses Tier kennen zu lernen, denn noch nie zuvor hatte es in ihrer Stadt einen Elefanten gegeben.
In Scharen strömten sie auf den Platz, wo der König sein Lager aufgeschlagen hatte. Und da sie keine Vorstellung hatten, was denn nun ein Elefant war, versuchten sie seine Gestalt zu ertasten, denn sie waren ja blind.
Sie umringten ihn also, und jeder betastete den Teil des Tieres, der in seiner Reichweite lag. Als sie dann zu ihren Mitbürgern zurückkehrten, wollten diese von ihnen wissen, um was für ein wunderliches Geschöpfes sich dabei handelte und welcher Art von Gestalt es denn nun sei.
Danach gefragt, berichtete der Mann, der nur das Ohr des Elefanten befühlt hatte: ›Es ist ein großes lappiges Etwas von rauer Oberfläche, breit und hoch wie eine Decke!‹
Doch der, der am Rüssel gestanden hatte, widersprach ihm: ›Nein, nein, ich weiß, was es ist, nämlich eine lange hohle Röhre, Furcht erregend und gefährlich!‹
Nun lachte der Mann, der Fuß und Beine abgetastet hatte: ›Nichts an ihm ist lang und hohl! Er ist mächtig und fest wie eine Säule!‹
So hatte ein jeder nur einen Teil des Ganzen erfasst und daraus seinen Rückschluss auf die wahre Gestalt und Größe dieses Elefanten geschlossen. Alles war richtig und zugleich doch völlig falsch. Denn sie waren Irrende, die das Ganze nicht begreifen konnten,
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