Falkenhof 02 - Auf der Spur des Falken
für jeden ein schwerer Schock. Ich kenne das nur zu gut. Man braucht lange, um darüber hinwegzukommen, wenn man nicht zu denjenigen gehört, die den Kampf für etwas Ehrenvolles halten und sich am Blut der anderen berauschen. Doch sei beruhigt, Tobias. Du hast dich nicht nur tapfer gehalten, sondern auch Großmut gezeigt. Du hättest sie alle töten können, die dich angegriffen haben, doch du hast es verstanden, ihnen nur Verletzungen zuzufügen, die sie ihrer Kampfkraft beraubten, nicht jedoch ihres Lebens.«
Tobias sah ihn zweifelnd an. Er hätte ihm nur zu gern geglaubt, doch es fiel ihm schwer, da sein Florett so voller Blut war.
»Stimmt das auch? Ich – ich kann mich an nichts mehr erinnern, ich meine an nichts Zusammenhängendes. Der ganze Kampf ist wie – wie ein verschwommenes Bild mit tausend nicht zueinander passenden Szenen«, sagte er stockend.
»Du hast mein Ehrenwort als Beduine«, versicherte Sadik.
Tobias schloss kurz die Augen und atmete tief durch. Im nächsten Augenblick schreckte er hoch, als ihn ein kräftiger Handschlag auf die Schulter traf. »Alle Achtung, mein Sohn!«, rief Gustave Taynard begeistert. »Du hast wie ein Löwe gekämpft! Was sag’ ich da: wie drei Löwen! Mir ist noch keiner begegnet, der die Klinge so trefflich zu führen verstand wie du. Hätte ich es nicht mit eigenen Augen gesehen, ich würde es nicht glauben. Und das gilt für Sie ebenso, mein Freund«, sagte er zu Sadik gewandt. »Wir haben Ihnen viel zu verdanken. Warten Sie, ich bin gleich mit dem Koran zurück.«
Tobias schob sein Florett in die Scheide und kletterte mit Sadik die Barrikade hinunter. Gaspard trat zu ihm, einen Wasserkrug in der Hand.
»Auch einen Schluck?«, fragte er. Sein Umhang war an mehreren Stellen eingerissen und eine Kugel hatte aus seiner Prothese einen fingerlangen Holzsplitter herausgerissen.
Tobias nickte und trank gierig. »Danke.«
»Für das Wasser?«, fragte Gaspard spöttisch.
»Dass du mir das Leben gerettet hast – mit deinem Spiegel.«
Gaspard grinste verlegen. »Dafür habe ich auch versucht dir deine Geldbörse zu stehlen.«
»Ich weiß, aber das ist jetzt ohne Bedeutung.«
Gustave Taynard kehrte im Eilschritt zu ihnen zurück. Er überreichte Sadik den Koran. »Ihr habt ihn euch mehr als redlich verdient, Freunde der Revolution! Ich wünschte, ich könnte noch mehr für euch tun. Möge Gott euch auf all euren Wegen begleiten.«
»Und möge Allahs Friede mit Ihnen sein, Monsieur Taynard«, erwiderte Sadik.
Der Ladenbesitzer hatte es eilig, wieder auf die Barrikade zu steigen. Denn wenn sie den Sturmangriff auch erfolgreich abgewehrt hatten, so war der Kampf noch längst nicht vorbei.
»Wir haben mehr als unseren Teil dazu beigetragen, dass die Revolution der Pariser nicht im Kugelhagel von Söldnern zusammenbricht«, stellte Sadik mit einem grimmigen Unterton fest, der seinen Unwillen darüber verriet, dass sie überhaupt in diese Revolutionswirren verwickelt worden waren. »Jetzt ist es Zeit, dass wir an unsere Sicherheit und unsere Interessen denken. Und die liegen klar und deutlich jenseits dieser Stadt. Drei Dinge verlängern das Leben: eine gehorsame Frau, ein ausdauerndes Kamel und ein kundiger Führer! Also lass uns gehen, Gaspard!«
Als sie sich auf den Dächern wieder in relativer Sicherheit befanden, verlangte Tobias eine kurze Rast. Er wollte unbedingt den Koran anschauen und das Gedicht lesen, das Wattendorf auf das Deckblatt geschrieben hatte.
Ein wahrer Dschungel von Ranken, Ornamenten und arabischen Schriftzügen, aus dem Kupferblech gehämmert, bedeckte den metallenen Korandeckel. Er wirkte, ganz wie Jean Roland gesagt hatte, viel zu überladen, um den Ansprüchen an ein Kunstwerk gerecht zu werden. Auch wies die Ausführung an vielen Stellen handwerkliche Mängel auf. Manche Ornamente und Ranken ragten viel weiter empor als andere.
Tobias schüttelte den Kopf. »Was für ein wirres Muster! Da tun einem ja die Augen weh, wenn man zu lange hinschaut. Das hat bestimmt kein Meister seines Fachs aus dem Kupfer gehämmert.«
»So wirr wie Wattendorf eben«, meinte Sadik.
Tobias klappte den Deckel um, dessen Rücken mit schwarzem Tuch bespannt war. Gleich rechts davon hatte Wattendorf sein Gedicht gekritzelt. Zumindest nahm er an, dass es sich bei diesen zittrigen Zeilen um ein solches handelte.
»Der Kerl hat wirklich eine unmögliche Handschrift. Da war der Brief, den er meinem Vater geschickt hat, ja geradezu eine kalligraphische
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