Falkenhof 02 - Auf der Spur des Falken
Spitzenleistung. Sadik, das kann ich nicht entziffern. Das sieht mir mehr danach aus, als wäre ein Huhn mit Tinte an seinen Füßen über das Blatt gelaufen.«
»Lass mich mal sehen«, bat Sadik und nahm ihm den Koran ab. »Ich bin mit Wattendorfs Handschrift besser vertraut als du. Oh, du hast Recht! Sie ist tatsächlich noch miserabler geworden. Aber wir werden sein Gekrakel schon entziffern. Einen Augenblick … Ah, ich glaube, ich habe es. Also hör zu!« Er räusperte sich.
Gespannt hörte Tobias zu, als Sadik ihm Wattendorfs Gedicht vortrug.
Gaspard zeigte dafür jedoch kein Interesse. Ihn faszinierte vielmehr das Geschehen unten in der Straße. Er hatte auch nie gefragt, warum ihnen soviel daran lag, den Koran in ihren Besitz zu bringen. Ihm hatte es genügt, dass er ihnen von Wert war. Die Menschen hatten seiner Erfahrung nach die merkwürdigsten Schrullen und Leidenschaften.
Die Buße für die Nacht
Die Schande und Verrat gebar
Der Koran darüber wacht
Was des Verräters Auge wurd’ gewahr
Den Führer durch die Schattenwelt
Hinter Ranken, Ornament versteckt
Das Tuch der Nacht verborgen hält
Wo ein erhabener Weg sich klar erstreckt
Muss glänzen in des Druckers Blut
Die tiefen Höh’n in Allahs Labyrinth
Dann aus dem Land der Sonnenglut
Der Plan ins Tal Gestalt annimmt
»Das Gedicht ist genauso wirr wie der kupferne Einband und nicht weniger schwierig wie das zum Falkenstock«, stellte Tobias kopfschüttelnd fest, nachdem ihm Sadik Wattendorfs Rätsel noch zweimal vorgelesen hatte. »Was meint er bloß mit Schattenwelt und tiefen Höhen? Das ist doch paradox. Entweder ist etwas tief, eine Schlucht etwa, oder hoch wie ein Berg. Aber tiefe Höhen? Und wo soll Allahs Labyrinth sein?«
»Wenn Wattendorf in irgendetwas unübertrefflich ist, dann wohl in verqueren Gedanken und Formulierungen«, erwiderte Sadik. »Erinnere dich doch nur an das andere Gedicht. Es erschien uns anfangs nicht weniger unlogisch und unverständlich. Aber dann ergab es doch einen Sinn.«
»Na, hoffentlich beißen wir uns an diesem Koran und seinem Rätsel nicht genauso lange die Zähne aus wie an dem Falkenstock. Ja ja, ich weiß schon, was du jetzt sagen willst: Eile treibt die Kamele nicht und der Sieg folgt dem Geduldigen. Aber mir wäre schon lieb, wenn wir diesmal nicht wieder Monate brauchten, um zu kapieren, was Wattendorf mit dem Koran bezweckt und was er wo an wichtigen Informationen für uns erhält.«
Sadik schlug den Koran zu und klemmte ihn sich hinter den Gürtel. »Sei beruhigt. Diesmal sind wir schlauer. Die Erfahrung mit seinem ersten Gedicht wird uns helfen, sein zweites in entschieden kürzerer Zeit zu enträtseln. Und nun wollen wir uns beeilen, dass wir das Viertel der Barrikadenkämpfe wieder heil hinter uns lassen.«
Tobias nickte. »Jana wird sich schon um uns sorgen!« Er lachte stolz und voller Freude. »Ich kann es gar nicht erwarten, ihr den Koran zu zeigen! Augen machen wird sie! Mein Gott, ich kann es ja selbst kaum glauben, dass wir ihn haben!«
»Sehen wir zu, dass wir ihn auch behalten«, meinte Sadik und gab Gaspard ein Zeichen, dass es weitergehen konnte.
Das Ultimatum
Dass ihnen nicht Isabelle oder Eugene öffnete, sondern Jean Roland höchstpersönlich in der Tür stand, hätte Tobias zu denken geben müssen, wie auch die kranke Blässe seines Gesichtes und die Wertlosigkeit, mit der er sie ins Haus ließ. Nicht einmal ein Gruß kam ihm über die Lippen. Doch in seiner überschwänglichen Freude, endlich im Besitz des Korans zu sein und sich Wattendorfs zweitem Rätsel widmen zu können, hatte er für diese Merkwürdigkeiten weder Blick noch Gespür.
»Wir haben ihn, Monsieur Roland!«, rief er freudestrahlend. »Wir haben den Koran! Sie werden es nicht glauben, wenn Sie hören, was wir erlebt haben! Wir mussten uns das Buch regelrecht erkämpfen! Mit der Waffe in der Hand und gegen eine Abteilung Schweizer Söldner!«
»Nun mal langsam«, dämpfte Sadik seine übersprudelnde Freude. Im Gegensatz zu Tobias fiel ihm das veränderte Wesen ihres Gastgebers sehr wohl auf und brachte es mit der unsicheren politischen Lage in Verbindung. »Sihdi Roland hat in diesen Tagen den Kopf gewiss mit anderen Dingen voll.«
»Ja, natürlich. Es tut mir Leid, Monsieur Roland«, entschuldigte sich Tobias für sein unerzogenes Benehmen. »Ich schau’ mal, wo Jana ist.«
Jean Roland hielt ihn am Arm zurück. »Ich – ich muss euch etwas Entsetzliches mitteilen«,
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