Falkenhof 02 - Auf der Spur des Falken
nachzuladen, die ihnen von den Verteidigern nach unten gereicht wurden. Zwei Frauen mit blutbefleckten Kleidern kümmerten sich um die Verletzten. Drei Tote lagen etwas abseits unter einer verschlissenen Plane. Pulverrauch trieb über die Straße und immer wieder mischten sich Schreie in das Krachen der Feuerwaffen.
»Das da oben ist Monsieur Gustave Taynard!« Die alte Frau wies auf einen korpulenten, grauhaarigen Mann, der gerade seine Flinte lud.
Sadik rief ihn an, doch Gustave Taynard verstand ihn im Lärm der unablässig aufpeitschenden Schüsse nicht. Er winkte, dass sie zu ihm hochsteigen sollten.
»Du bleibst hier!«, sagte Sadik zu Tobias.
Doch dieser dachte nicht daran, der Aufforderung Folge zu leisten. Auch er kletterte die Barrikade hoch. »Du bist mein Freund, nicht mein Vater oder Kindermädchen!«
»Republikaner oder verkappte Royalisten?«, lautete die erste Frage des kämpferischen Ladenbesitzers. Sein graues, verschwitztes Haar hing ihm in feuchten Strähnen ins Gesicht, auf dem sich der Schweiß mit Pulver, Dreck und Blut aus einer Platzwunde verschmiert hatte.
»Republikaner!«, rief Tobias voller Überzeugung. Und auch wenn Onkel Heinrich ihn nicht in dieser Geisteshaltung erzogen hätte, spätestens nach dem gestrigen Vorfall mit dem brutalen Kavalleristen wäre er einer geworden!
»Dann macht euch nützlich! Die Burschen da drüben haben soeben Verstärkung erhalten. Wird verdammt hart werden, die Stellung zu verteidigen!«
»Monsieur Taynard, wir sind keine Franzosen …«, begann Sadik, der immer noch hoffte, sich und Tobias aus diesen Kämpfen heraushalten zu können.
»Das hört man, auch wenn ihr unsere Sprache hervorragend sprecht. Aber ob man für die Republik und die Rechte des Volkes ist, hängt nicht davon ab, aus welchem Land man stammt. Die Freiheit ist unteilbar, sie durchdringt alle Gebiete der menschlichen Existenz und sie kennt auch keine Landesgrenzen! Hier gibt es nur eins: Freund oder Feind!«, fiel Taynard ihm ins Wort, schob seine Flinte durch einen Spalt und drückte ab.
»Das ist schon richtig«, unternahm Sadik einen neuen Anlauf. »Wir haben gehört, dass Sie vor zwei Wochen einer jungen Frau einen Koran mit einem Deckel aus gehämmertem Kupferblech abgekauft haben.«
»Ja ja, und ich habe ihr mehr gezahlt, als das Buch wert ist, weil sie mir Leid tat. Tat so stolz und war doch den Tränen nahe.«
»Haben Sie den Koran noch?«, fragte Tobias hastig und voll banger Erwartung, wie wohl die Antwort ausfallen würde.
»Keine Sorge, ich habe ihn noch.«
»Gott sei Dank!«, stieß Tobias überglücklich hervor.
»Dieser Koran muss ja mächtig wichtig für euch sein«, stellte Gustave Taynard fest.
»Er hat für uns eine große persönliche Bedeutung, die nichts mit seinem Wert als Buch zu tun hat«, bestätigte Sadik. »Und wir wären Ihnen überaus dankbar, wenn wir Ihnen den Koran abkaufen dürften.«
»Mit Vergnügen, aber da werdet ihr euch wohl noch etwas gedulden müssen. Ich werde jetzt bestimmt nicht von der Barrikade steigen, um mich mit so einer Lappalie abzugeben. Hier steht die Freiheit unseres Volkes auf dem Spiel. Und wenn ihr Manns genug seid, werdet ihr euren Teil dazu beitragen, dass wir siegen und König Charles vom Thron stürzen! Ich sehe, ihr seid bewaffnet, und euer Begleiter trägt sogar zwei Musketen. Wir können sie verdammt gut brauchen. Also schließt euch uns an!«, forderte er sie fast grob auf. »Jawohl, das ist der Preis, den ich für den Koran verlange! Helft uns, die Barrikade zu halten. Dann bekommt ihr den Koran.«
Sadik und Tobias erhielten keine Gelegenheit mehr, ihm darauf eine Antwort zu geben. Der Strudel der Ereignisse riss sie mit sich, als zwei schnell aufeinander folgende Gewehrsalven mit ohrenbetäubendem Krachen auf die Barrikade abgegeben wurden. Ein Mann von vielleicht neunzehn, zwanzig Jahren, der links von Tobias hinter einem Fass gekauert hatte, wurde von einer Kugel getroffen und stürzte aufschreiend hinunter. Auch an anderen Stellen forderte der gegnerische Kugelhagel seinen blutigen Tribut unter den Verteidigern.
»Alles zu den Waffen! Sie wollen die Barrikaden stürmen!«, gellte der Schrei eines jungen Mannes auf, dessen schwarze Uniform ihn als Studenten des Polytechnikums auswies. Die jungen Männer dieser Lehranstalt waren es, die seit dem Montag überall in der Stadt den Widerstand straff organisierten.
Die Schweizer Söldnertruppen auf der anderen Seite der Barriere setzten tatsächlich zum
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