Falkenhof 02 - Auf der Spur des Falken
auf einen einsamen Hof zu stoßen.
Die Weidentruhe, die neben dem geheimnisvollen Spazierstock auch die einundzwanzig Reisetagebücher seines Vaters und einige andere Erinnerungsstücke enthielt, war ihm so schwer wie eine Tonne Blei geworden. Als er der völligen Erschöpfung schon sehr nahe gewesen war und Sadik gerade hatte bitten wollen, doch irgendwo im Wald zu nächtigen, weil er nicht mehr konnte, waren sie auf ein freies Feld gestoßen und hatten einen Heuschober entdeckt. Dort hatten sie dann ihr Nachtlager aufgeschlagen, auf nacktem Boden und unter einem sehr schadhaften Dach.
Tobias fuhr sich mit der gespreizten Hand durch sein zerzaustes sandbraunes Haar. Verschlafen blinzelten seine Augen in das helle
Licht, das durch die fingerbreiten Ritzen zwischen den Brettern in den Heuschober fiel und ein Sonnenmuster auf den Boden warf. Es musste schon ein paar Stunden nach Tagesanbruch sein, dem hohen Stand der Sonne nach zu urteilen.
Der Platz neben ihm, wo Sadik gelegen hatte, war verlassen. Doch die säuberlich zusammengerollte Decke und die ärmellose Schaffelljacke des Arabers lagen neben dem Stützbalken, wo die Erde trocken war. Der Gedanke, Sadik könnte ihn im Stich gelassen haben und allein weitergezogen sein, kam ihm nicht. Obwohl schon Anfang Vierzig und in vielen Dingen ein merkwürdiger Kauz, war Sadik Talib ihm Freund und Bruder in einer Person – und mehr. Ihm konnte er blindlings vertrauen – wie es auch sein Vater in all den Jahren getan hatte, die er nun schon in seinen Diensten stand: als wüstenerfahrener Führer, Reisebegleiter, mehrsprachiger Dolmetscher und nicht zuletzt als Freund und Vertrauter.
Vermutlich sieht er sich draußen nach etwas Essbarem um, dachte Tobias. Er hoffte es so sehr, wie er es jetzt bereute, gestern Nacht auch ihren gesamten Proviant über Bord geworfen zu haben, als der Ballon in den See zu stürzen drohte. Aber in der Situation war wohl keiner von ihnen sehr ruhig und bedacht gewesen.
Seine Gedanken kehrten nach Falkenhof und zu seinem Onkel zurück. Wie mochte es ihm ergehen? Die Vorstellung, dass er jetzt wohl längst im Mainzer Kerker saß und sich wegen seiner geheimbündlerischen Aktivitäten vor einem Gericht würde verantworten müssen, bedrückte ihn sehr. Hoffentlich überstand er die Schussverletzung gut und schaffte es tatsächlich, ein mildes Urteil zu erwirken.
Heinrich Heller hatte ihm die Geborgenheit und Liebe geschenkt, die sein leiblicher Vater ihm nie in diesem Maße hatte geben können, da er zwischen seinen langjährigen Entdeckungsreisen stets nur wenige Monate auf dem Landgut geweilt hatte. Es war sein Onkel gewesen, der ihn wie seinen eigenen Sohn aufgezogen und ihn an seinem ungeheuren Wissen hatte teilhaben lassen. Die besten Hauslehrer und Fechtmeister hatte er nach Falkenhof geholt um seine vielfältigen Begabungen zu fördern. Er hatte ihm so unendlich viel zu verdanken, und es schmerzte ihn, dass er nun in der Stunde der Not nicht bei ihm sein und ihm helfen konnte, sondern gezwungen war nach Paris zu fliehen, um seine eigene Haut zu retten.
Wenn alles so klappte, wie sie es besprochen hatten, würde Jakob in vier Wochen zu den Detmers nach Speyer kommen um ihnen mitzuteilen, wie es seinem Onkel erging. Sollten sie sich dort verpassen, war als zweiter Treffpunkt zwei Wochen später der Gasthof Zur Goldenen Gans nahe der französischen Grenze vereinbart worden. Aber vier oder sogar sechs Wochen ohne eine Nachricht von Heinrich Heller zu sein erschien ihm eine schrecklich lange Zeit.
Sein Blick fiel auf die Weidentruhe, die neben ihm im Dreck stand, und er zwang sich, seinen düsteren Gedanken nicht länger nachzuhängen, denn sie führten zu nichts. Er klappte den Deckel hoch und nahm den Spazierstock heraus. Nachdenklich blickte er auf den silbernen Falkenkopf mit dem aufgerissenen Maul und den merkwürdigen Kerben und ägyptischen Zeichen, die in das dunkle Ebenholz des Stockes eingeritzt waren. Was für ein wichtiges Geheimnis mochte er nur hüten, dass Zeppenfeld vor keiner noch so verbrecherischen Tat zurückschreckte um ihn in seine Gewalt zu bringen? Und wie war dieses rätselhafte Gedicht zu lösen, das Wattendorf seinem Vater zusammen mit dem Stock geschickt hatte? Leider existierte von diesem Begleitbrief nur noch die zweite Seite.
Tobias legte den Stock zurück und nahm sich Wattendorfs verschlüsselten Brief noch einmal vor. Das seltsame Gedicht lautete folgendermaßen:
Die Buße für die Nacht
Die Schande
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