Falkenhof 03 - Im Banne des Falken
Das hatte sie in den letzten Wochen ihrer abenteuerlichen Reise durch die Länder des südlichen Deutschland nach Frankreich und ganz besonders in den Tagen der blutigen Revolution in Paris unter Beweis gestellt. Dabei ging die junge Landfahrerin und Kartenlegerin mit dem langen schwarzen Haar und den flaschengrünen Augen wie Tobias erst auf die siebzehn zu. Aber das Alter war noch nie allein ein Maßstab für Reife gewesen.
Wem Allah einen Kochlöffel beschert, dem schenkt er nicht unbedingt auch das Geschick für schmackhafte Speise, und wenn dieser auch sein halbes Leben an den Töpfen steht und rührt!
Nicht so Jana. Die Jahre des rastlosen Herumziehens durch halb Europa hatten ihr die Erfahrungen und die Reife gebracht, die über ihr wahres Alter weit hinausgingen.
Dasselbe traf auf Gaspard zu. Er war erst zwölf, doch was Härte und Sichbewähren angesichts von Lebensgefahr betraf, war er fast schon ein Veteran wie Sadik. Denn der unbarmherzige Kampf ums Überleben in den Elendsvierteln von Paris, wo sie ihn kennen gelernt und als unbezahlbaren Helfer gewonnen hatten, hatte ihn geformt. Die Not und Brutalität seines Alltags hatten ihm nicht nur die Sorglosigkeit der Kindheit geraubt, die für Tobias bis vor ein paar Monaten auf Gut Falkenhof so selbstverständlich gewesen war, sondern ihn auch die linke Hand und das rechte Auge gekostet. Eine Augenklappe aus braunem, speckigem Leder verdeckte die leere Höhle, und am linken Arm trug Gaspard eine Holzprothese, aus der ein gekrümmter Eisenhaken und eine Art Gabel mit zwei Zinken herausragten. Diese Prothese war sein ganzer Stolz. Er hatte sie sich selbst verdient und mit Blei bezahlt, und zwar mit dem Blei von Dachverkleidungen, die er nachts von den Dächern der Wohnhäuser in Schwindel erregender Höhe gestohlen hatte. Schon mit zwei gesunden Armen war das für einen wieselflinken Jungen eine lebensgefährliche Angelegenheit. Fast ein Jahr hatte er gebraucht, um das Geld für die Prothese aufzubringen – und den Hausbesitzern zu entkommen, die mit obdachlosen Gassenjungen wie ihm kurzen Prozess machten und sie in die Tiefe stürzten, wenn sie ihrer habhaft wurden. Ja, auf Gaspard war Verlass.
Und Tobias?
Sadik lächelte unwillkürlich voller Stolz. Tobias war das jugendliche Ebenbild seines Vaters Siegbert Heller, der sein Leben der Entdeckung und Erforschung noch unbekannter Länder gewidmet hatte und dem er, Sadik Talib, in Arabien viele Jahre als Dolmetscher, Reiseführer und Freund gedient hatte. Und wenn er letztes Jahr auf Falkenhof nicht so schwer erkrankt wäre, wäre er jetzt nicht hier in Frankreich auf dem Weg zur Kanalküste, sondern mit Sihdi
Heller auf dessen neuer Expedition irgendwo in Afrika auf der Suche nach den Nilquellen. Ob es ihm wohl doch noch gelingen würde, Sihdi Heller im kommenden Winter in Chartoum zu treffen?
Tobias hatte mit seiner schlanken, durchtrainierten Gestalt, dem sandbraunen Haar und den markanten Gesichtszügen nicht nur das gute Aussehen seines Vaters geerbt, sondern auch dessen wachen Geist. Was seine Sprachbegabung und seine Fechtkünste anging, so übertraf Tobias ihn und jeden anderen, den Sadik kannte. Arabisch sprach er wie ein Einheimischer und die Klinge wusste er so vortrefflich zu führen, dass sein letzter Lehrer, ein berühmter französischer Fechtmeister, ihm nichts mehr hatte beibringen können. Dem ehemaligen Schüler, dessen meisterlicher Klingenführung er sich hatte unterwerfen müssen, hatte er zum Abschied einen kostbaren Degen vermacht. Er stammte aus Spanien und wurde schon seit Generationen von einem Meister an den nächsten Schüler weitergereicht, wenn dieser ihn überflügelte.
Vor einigen Monaten, es war im Mai gewesen, waren sie der Belagerung von Gut Falkenhof, das eine Kutschenstunde südlich von Mainz lag, bei Nacht und Nebel in einem Heißluftballon mit knapper Not entkommen. Seitdem befanden sie sich vor ihrem Verfolger Armin Graf von Zeppenfeld und seinen gedungenen Schurken, den ehemaligen Söldnern Stenz und Tillmann, auf der Flucht. In diesen vergangenen Monaten hatte Tobias mehr als einmal Gelegenheit erhalten, nicht nur seine Intelligenz und Geistesgegenwart unter Beweis zu stellen, sondern auch seine Fechtkünste. Und wenn er manchmal auch ein hitziges, übersprudelndes Temperament an den Tag legte, so hatte er doch mit der Klinge in der Hand stets die Mahnung beherzigt, die in den Toledostahl des spanischen Degens eingraviert war: Mögen sich Tapferkeit und
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