Falkenjagd
hakte sie mit der
rechten eines ihrer opalverzierten Ohrgehänge aus und kratzte ihn mit
der Nadel kräftig am Oberarm. Das Blut, das in einem großen, fast
runden Tropfen herausquoll, hatte die gleiche Farbe wie das ihrer
Monatsblutung.
»Danke, danke sehr«, sagte sie leise und wandte sich zum Gehen.
»Warum bleiben Sie nicht noch etwas bei mir?«
»Weil ich schon viel zu lange weg bin, aber vielleicht
morgen …«
Ihr Vorschlag kam ihr so verwegen vor, dass sie die Augen
gesenkt hielt. Tatsächlich hätte sie noch sehr gern sein schwarzes
Haar, das in langen Strähnen auf seiner Brust lag, durch ihre Finger
gleiten lassen und ihn dabei über die Wälder Französisch-Amerikas
befragt. Aber die Kutsche zurück ins Schloss war für Viertel nach elf
bestellt. Außerdem musste sie noch die Montbail suchen, von deren
Schweigen sowieso alles abhing.
Er seufzte kaum hörbar und machte ihre Hoffnungen in
elegantestem Französisch zunichte.
»Morgen bin ich schon unterwegs nach Hamburg. Die Bürger dort
haben ein besonderes Faible für Wilde.«
In den folgenden Wintermonaten war
Friederike sehr beschäftigt. Sie nahm kaum zur Kenntnis, wie sich ihr
Brautschatz mit weißseidenen Strümpfen, bestickten Kniebändern,
Marseiller Nachthauben, Puderdosen und Kerzenhaltern aus gehämmertem
Silber, Staatsroben aus hartem Brokat und heiteren, blütenberankten
Negligés für den Tag füllte. Sie unternahm lange, mehr oder weniger
heimliche Wanderungen durch das Schloss und ließ sich von allen
Bediensteten, die sich darauf einließen, die Zähne zeigen. Sie schaute
ihnen tief in den Rachen, auch wenn er manchmal nach Fäulnis stank.
Dann notierte sie die Anzahl der Zähne und auch der Lücken, dann Namen,
Alter und Herkunft der Leute. In einer nächsten Runde nahm sie Schnüre
mit. Sie legte sie den Silberbeschließerinnen, Zofen und Mundköchen um
Oberarme, Brustkorb und Handgelenk, um dann die Maße ihrer Gliedmaßen
ebenfalls genau zu vermerken.
Nachts lag sie angestrengt wach und grübelte beim
gleichmäßigen Schnarchen der Montbail darüber nach, was sie mit all
diesen Untersuchungen und vielen Zetteln anfangen sollte. Was war es,
das so brennend in ihr Antworten auf Fragen suchte, die sie noch gar
nicht gestellt hatte? War es Gottes Wille oder purer Zufall, dass die
Menschen sich in ihrem Wuchs und Körperbau so auffallend unterschieden?
Konnte es sein, dass sich die einzelnen Geschöpfe eigenwillig vom
göttlichen Ursprungsplan entfernten, ohne dass sie es selbst
wahrnahmen? Was hatte der zimtfarbene, blankbrüstige Hurone damit zu
tun? Welche Spur wies er ihr, oder führte er sie komplett in die Irre?
Die Nebel in ihrem Kopf lichteten sich für einen winzigen
Augenblick und ballten sich dann noch dichter zusammen.
Tagsüber schämte sie sich, weil sie so
anders als ihre Geschwister war. Sie wünschte, sie könnte mit Friedrich
und Wilhelmine über einem italienischen Opernlibretto die Köpfe
zusammenstecken, über den einen oder anderen Kastraten fachsimpeln und
dabei, wie es die beiden gern taten, die Füße zärtlich ineinander
verhaken. Sie bemühte sich, sich zu ändern. Brav las sie für eine Weile
französische Komödien oder erbauliche Romane, aber sie fand sie weder
witzig noch lehrreich.
Eines Tages kam ihr beim Essen eine Idee. Sie ließ sich
heimlich aus der Küche die blank genagten Knochen von Hirschen,
Schweinen und Enten bringen, scheuerte sie mit Sand, bis sie glänzten,
verglich sie, vermaß sie und zeichnete sie ab. Schließlich vergrub sie
sie in ihrer Wäsche, um sie immer wieder in den wenigen Stunden zu
betrachten, in denen sie allein war, weil die Montbail zu einem
Kammerherrn ins Bett geschlüpft war.
Aus Furcht, jemand könnte ihren absonderlichen Neigungen auf
die Spur kommen, zog sie sich noch mehr als früher von ihren
Geschwistern zurück. Mit ihrem Mann, dem Ansbacher Markgrafen, würde
sie darüber sprechen können, da war sie sich sicher. Wahrscheinlich
hielt er sich als moderner Mensch einen Hofmedicus, der an einer der
fortschrittlichen Universitäten studiert hatte und ihr bald aus dem
Dickicht ihrer Gedanken heraushelfen konnte. Vielleicht gab es in
Ansbach sogar Forscher von Rang, mit denen man sich austauschen konnte.
Außerdem war ja die Universität Altdorf bei Nürnberg nicht weit. Dort
lehrten, wie sie gehört hatte, bedeutende Mediziner. Nicht dass man sie
als Frau dort zulassen würde, nein, so weit wagte sie nicht zu hoffen,
aber vielleicht konnte ihr wenigstens
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