Fallende Schatten
Anrufe. Was bedeuten könnte, der geheimnisvolle Mann hatte von ihrem Tod gewußt, sich jedoch nicht blicken lassen, weil er etwas damit zu tun hatte.
Ich lehnte mich zurück, schloß die Augen und wiegte mich hin und her. Reynolds? Könnte es Reynolds sein? Ich nahm die Vergrößerungen zur Hand, aber schon in dem Augenblick erledigte sich diese Möglichkeit von selber. Reynolds war nicht größer als einssiebzig oder vielleicht einsdreiundsiebzig und ziemlich dick, fast schwabbelig. Der Mann, der Lily gegenübersaß, wirkte hingegen schlank und elegant. Ich versuchte, seine Größe zu schätzen, indem ich die beiden miteinander verglich. Er schien ziemlich groß zu sein. Aber verglichen mit Lily wirkten fast alle anderen Leute wie das Empire State Building. Doch auch sonst, ganz abgesehen von der Größe, bestand einfach keinerlei Ähnlichkeit zwischen den beiden Männern. Gott sei Dank, dachte ich, als ich die Photographien beiseite legte.
Ich mußte Lilys Freund finden, soviel war klar. Meine Motive waren nach wie vor verschwommen, meine Vorstellungen, wie ich das anstellen sollte, noch weit mehr. Also tat ich, was ich vor mir hergeschoben hatte, seit ich die Tagebücher gefunden hatte. Ich kochte frischen Kaffee, zündete mir – wirklich erstaunlich – noch eine wundervolle Zigarette an, machte es mir auf dem Sofa bequem und las sie von Anfang bis Ende.
19 Die Tagebücher 1945 -1951
Nr. 8. Überall war Blut. Vom Himmel sind Bomben heruntergefallen. Dolly Brennan hat sich die Seele aus dem Leib geschrien. Ich hab nicht verstanden, was sie gebrüllt hat, aber sie hat ihre Riesenschnauze weit aufgerissen. Das Herz ist mir in die Hose gerutscht, als ich gesehen hab, auf wen sie deutet. Er hat es nicht getan. Es waren zwei, mit Gewehren. Der Kerl im Garten und der auf dem Rad. Die haben ihm eine Kugel verpaßt. Pech für ihn. Ich hab die Gewehre gesehen.
Immer wieder habe ich versucht, M zuzurufen, er soll wegrennen, einfach weg, und dann hat er das auch gemacht. Ich habe zu Gott gebetet, daß die alte Hexe Brennan nicht gesehen hat, wie er etwas fallen lassen hat. Ich hab es später geholt. Ehe die Polizisten gekommen sind. Der alte beobachtet mich die ganze Zeit. O’Keefe heißt er. Ich muß aufpassen, dem entgeht nicht so leicht was. Martin ist sein Gehilfe. Martin, das ist nicht schlimm. Der kümmert sich um uns.
Portsmouth, 1941. Von Anfang bis Ende ein Albtraum. Als hätte jemand meine Gedanken gelesen. Er war hinter Lily her. Sie hat nichts gesagt, aber ich habe es gewußt. Dieses Tier. Sie ist noch so klein. Er würde sie umbringen, der Schinder. Ich wollte ihn nur warnen. Nicht, daß er so jemand wie mich besonders beachtet hätte. Er hat gewußt, er hatte uns bereits fertiggemacht. Und er hat nur gelacht, als ich nach Vaters Tod gesagt habe, ich wolle in der Druckerei arbeiten. Er hat gesagt: »Versuch das nur, Junge, wirst schon sehen, was du davon hast.« Er hat gelacht. Aber dann hat er sein dreckiges Maul einmal zu oft aufgerissen. »Schick deine hübsche Schwester zu mir. Ich verpaß ihr, was sie braucht.« Noch immer höre ich sein meckerndes Gelächter, als ich auf ihn los bin; er hat mich einfach bei den Handgelenken gepackt und weggeschubst, als wäre ich ein Stück Dreck.
Nr. 8. Ich habe Mr. O’Keefe gezeigt, wo die Kugel war.
Und jetzt hört er nicht mehr auf, mir Fragen wegen dem »Jungen im braunen Anzug, den Mrs. Brennan gesehen hat »zu stellen. Ich hab gesagt, den kenn ich nicht.
Heute bin ich wieder ums Haus rumgegangen. Ich hab mich in dem Vorbau von der Werkstatt versteckt, wo ich an dem Morgen gewesen bin, als er weg ist. Und dann hab ich seine Schwester gesehen. Sie war mit einem Mann zusammen. Er war sehr groß, so wie sie, und mager. Sie hat kein bißchen traurig ausgesehen. Ich glaub, die vermißt ihn überhaupt nicht. Oder vielleicht sieht sie ihn jeden Tag? Vielleicht will er nur mich nicht sehen.
Portsmouth. Der Hafen ist gerammelt voll von allen möglichen Schiffen und Booten jeder Größe. Und Tausenden von Soldaten. Noch nie in meinem Leben habe ich so viele Leute gesehen. In Uniform sehen sie alle gleich aus, ich kann nicht mal sagen, wie alt die Leute sind. Die scheinen alle zu wissen, was sie tun. Ich wünschte, ich wüßte das auch. Ich habe schreckliche Angst, daß ich jemand in die Arme laufe, der mich kennt. Der über Buller Bescheid weiß. Hier sind viele Iren. Wir schlafen in Hängematten an beiden Enden des Decks, ganz dicht nebeneinander.
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