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Fallende Schatten

Titel: Fallende Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gemma O'Connor
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sicher?«
    Ich machte sie auf die Spiegelung im Restaurantfenster hinter meiner Mutter und ihrem Belami aufmerksam. »Siehst du das, ein zweistöckiger Bus«, sagte ich. »Rot.«
    Maria wich ein wenig zurück und starrte mich an. »Da komm ich nicht ganz mit.«
    »Die meisten doppelstöckigen Busse in Irland sind grün.«
    »Wie alles andere auch«, riefen wir im Chor und lachten.
    »Verstehe. Richtig. Gut kombiniert, Nell.« Sie zog eine Augenbraue hoch. »Gilt das auch für Nordirland?«
    »Das ist ein Argument.«
    »Also brauchen wir nur in Nordirland und England zu suchen. Na ja, das engt das fragliche Gebiet ein bißchen ein, stimmt’s?« Sie kicherte. »Was ist mit ihren Reisen, Nell? Sie ist doch überall rumgegondelt. Könnte es nicht eine ihrer Zufallsbekanntschaften sein?« Spöttisch sah ich sie an, woraufhin sie sich wieder dem Photo zuwandte. »Bei genauerem Hinsehen – vergiß es. Die sehen wirklich aus wie alte Freunde, findest du nicht? Gelinde ausgedrückt.« Jetzt war ihr Interesse endgültig geweckt.
    Eine zweite Flasche Valpolicella und eine Stunde später kamen wir irgendwie auf die Idee, den Mann auf dem Photo mit den Tagebüchern in Verbindung zu bringen. Auf dem Tisch zwischen ihnen lag – zumindest erschien das unseren leicht vernebelten Augen so – ein Päckchen. Wir glaubten auch Schriftzüge auf dem Bus zu erkennen, dort, wo normalerweise die Reklame steht. Ich weiß nicht, in welchem Stadium ich den Entschluß faßte, das Photo vergrößern zu lassen, aber als ich am nächsten Morgen aufwachte, schien es keinerlei Zweifel daran zu geben, daß ich genau das tun müßte.
    Irgendwie hatte ich die noch unausgegorene Vorstellung, der Mann auf dem Photo könnte in irgendeinem Zusammenhang mit dem Tod meiner Mutter stehen. Sobald sich dieser Gedanke einmal in meinem Kopf eingenistet hatte, blieb er dort haften; ich sprudelte über von diversen Versionen eines »Was wäre, wenn«. Immer mehr fragwürdige, lästige, quälende kleine Unstimmigkeiten entdeckte ich in Lilys Leben. Ganz zu schweigen von ihrem Tod.
    Sobald ich mich angezogen hatte, spazierte ich auf die andere Straßenseite zu einem Photokopierladen. Mark, der Junge, der die kleine Photoabteilung leitet, versteht sich auf Vergrößerungen. Er hat so einen wundersamen Laserapparat, der in zwei Minuten eine Farbkopie anfertigen kann. Ich sagte ihm, er solle das Photo immer weiter vergrößern, bis die Bilder zu verschwommen wurden, um noch etwas zu erkennen. Kosten spielten keine Rolle. Zehn Minuten später hatte ich einen Stapel Kopien von fünfzehn auf fünfzehn Zentimeter bis zur Größe eines halben Posters. Ich ging wieder nach Hause, kochte eine Kanne Kaffee und breitete die Kopien auf dem Tisch aus. Dann zündete ich mir die zweite Zigarette in einem halben Jahr an und studierte die Aufnahmen eingehend.
    Zu fünfzig Prozent hatte ich Erfolg. Die Schrift auf dem Bus wurde eher verschwommener als deutlicher; das half mir also nicht weiter. Aber ich erhielt eine Antwort auf meine zweite Frage: Das Ding auf dem Tisch war kein Päckchen, es waren die Tagebücher, die ausgewickelt auf dem Packpapier lagen; die Hand des Mannes wies auf das Muster auf dem Einband. Oder vielleicht auf das Datum? Sein Gesicht war von seinem Hut wie auch von der Tasse, die er gerade zum Mund führte, verschattet. Aber auch so wurde mit jeder Vergrößerung der Blick, den Lily und er wechselten, eindeutiger. Ihre Haltung, die Körpersprache, wie sie da in der Sonne saßen, als sei es für alle Ewigkeit, das alles sprach Bände. Nicht nur Freunde; Liebende. Oder zumindest kurz davor, welche zu werden.
    Doch auf der Beerdigung war er weit und breit nicht zu sehen gewesen, zumindest konnte ich mich nicht daran erinnern. Das konnte – im Zweifel für den Angeklagten – bedeuten, er hatte noch nicht gewußt, daß sie tot war. In den Zeitungen hatte zwar eine Todesanzeige gestanden, aber die meisten Trauergäste waren entweder von ihren Freunden oder Nachbarn oder von mir selber benachrichtigt worden. Kannte denn niemand den geheimnisvollen Mann? Die andere denkbare Erklärung war etwas beängstigend: Er hatte es gewußt, es aber vorgezogen, nicht zu kommen. Und warum? Weil er – langsam, langsam –, weil er auf irgendeine Weise etwas mit ihrem Tod zu tun hatte. Das war eine gewagte Vermutung, aber unbestreitbare Tatsache war: Solange ich in Dublin gewesen war, waren keine Briefe von ihm, ja, überhaupt keine private Post für Lily gekommen. Und auch keine

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