Fallende Schatten
Augustine gefunden, solange Jimmy krank war. Gott weiß, wer das bezahlt hat. Ich konnte es nicht. Dieser Frau verdanke ich mein Leben. Untertags, während ich bei Jimmy gesessen bin, habe ich die Näh- und Ausbesserungsarbeiten für das Krankenrevier gemacht. Wochenlang ist er dahingesiecht, es ist ihm nicht besser gegangen, aber auch nicht schlechter. Ich glaube, zum ersten Mal in seinem Leben hat er sich wirklich wohl gefühlt, der arme kleine Schatz, und er hatte einfach keine Lust aufzugeben. Das hat ihm Kraft gegeben. Und dann, als es gerade Frühling geworden ist und ich gedacht habe, er ist über den Berg, ist es ihm wieder schlechter gegangen.
20 Die Tagebücher 1951 -1961
Der Doktor weiß nicht mehr, was er mit mir machen soll. Er sagt, wenn ich nicht reden kann, muß ich eben schreiben. Das aufschreiben, was offenbar so schmerzlich ist, daß ich nicht einmal darüber sprechen kann. »Führen Sie ein Tagebuch«, hat er mir geraten, »dann werden Sie feststellen, die Dinge kommen ganz von selber hoch. Kein Mensch braucht es zu lesen, nicht einmal Sie selber. Versuchen Sie’s.« Ich habe ihm nicht erzählt, daß ich immer schon ein Tagebuch geführt habe, wollte ihm seine hübsche kleine Theorie nicht durcheinanderbringen. Aber ich lache insgeheim über ihn.
In jener Nacht habe ich aufgehört zu leben. Ich hätte nicht wegrennen sollen. Es hat mir nichts geholfen, hat alles nur noch schlimmer gemacht. Ich habe damals gedacht, wenn ich weglaufe, ließe ich die Erinnerung hinter mir zurück. Aber genauso gut hätte ich sie in meinen Koffer packen können. Ob im Schlaf oder wenn ich wach war, immer hat sie mich seitdem begleitet. Manchmal gehe ich nachts alles noch einmal durch. Zwinge mich selber, mich Schritt für Schritt daran zu erinnern. Aber nicht immer erinnere ich mich an das gleiche. Einzelheiten entgleiten mir. Motive, Gründe. Warum bin ich weggerannt? Ich kann mich nicht erinnern, warum genau ich eigentlich in jener Nacht in der Daedalian Road war. Ich kann mich nicht entsinnen, wie ich nach Hause gekommen bin. Noch, woher plötzlich der Gedanke aufgetaucht ist, zur Marine zu gehen. Schon mit siebzehn war ich Pazifist. Na ja, Pazifist eigentlich nicht; ich hatte Angst.
Ich wurde in dem Jahr geboren, als der Vertrag mit England unterzeichnet wurde, der das Ende des Unabhängigkeitskrieges besiegelte. Ich hatte die Gewalt und das Gerede über Gewalt satt. Es gab nicht einen Mann in der Generation meines Vaters, der nicht an der Besetzung des Hauptpostamtes während des Osteraufstands im JAHRE 1916 beteiligt war; die Rebellen hatten sich schließlich den Briten ergeben müssen. Zusätzlich hatte er das Glück, im Verlauf des Bürgerkriegs – im Kreuzfeuer eines Scharmützels – angeschossen zu werden. Das sicherte ihm seine Unsterblichkeit, zumindest als Hauptattraktion des Pubs im Viertel. Er war kein Held. Die Loyalität meines Vaters war immer ein wenig fragwürdig, aber er merkte sehr wohl, wann sich ihm die Gelegenheit bot, im Mittelpunkt zu stehen. Über Nacht wurde er Devs Mann – na ja, nicht gerade über Nacht: er wartete ab, bis feststand, welche Seite siegen würde, ehe er ernsthaft zu feiern anfing. De Valeras Erfolg entschied endgültig über den Niedergang des Familienunternehmens.
Es begann ganz allmählich, aber binnen eines Jahrzehnts schlitterte eine einst florierende Druckerei fast in den Bankrott. Und seine Familie begann den noch schnelleren Abstieg von Wohlstand zu, nun ja: fast Armut. Das Haus in Blackrock wurde verkauft, und wir zogen in ein gemietetes. Gar nicht mal so schlecht zuerst, aber mit jedem Umzug näher zur Innenstadt hin wurden die Häuser kleiner und schäbiger.
Ich mußte meine Privatschule verlassen und in die staatliche wechseln. Mein Mutter stieg schlicht aus, entfernte sich immer mehr von der Wirklichkeit. Sie hatte immer Dienstmädchen gehabt, jetzt hatte sie keines mehr. Weder war sie für die Führung eines Haushalts geeignet, noch interessierte sie sich dafür. Sie litt unter ihren Nerven, wie wir alle. In ihrer Vorstellung war ihr armer Mann das Opfer einer Bande Ränke schmiedender, eifersüchtiger Diebe. Sie kam mit den Veränderungen einfach nicht zurecht, also tat sie so, als fänden sie nicht statt. Ich scheine diese Neigung geerbt zu haben. Außerdem haben meine Schwester und ich ihr Aussehen geerbt. Sie war groß, schlank und schwarzhaarig, hatte eine lange Nase und dunkle Augen. Die Armada muß da für eine Menge geradestehen – sie hat
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