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Fallera

Fallera

Titel: Fallera Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Juretzka
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Miene einmal abgesehen, wirkte schlaff. Alles Fleisch an ihr schien dem Boden zustreben zu wollen, als wirke die Gravitation zehnmal härter auf sie als auf den Rest von uns. »Ich habe Multiple Sklerose«, teilte sie mir ungefragt mit.
    Nein, es hat nichts mit der Schwerkraft zu tun . Es ist ihr Körper . Er ist so weich . Breiig, fast . Mein Gott, er löst sich auf, vor meinen Augen ... Zerfließt geradezu ... All das breiige Fleisch sackt in sich zusammen, läppt über den Sitz des Rollstuhls, quillt unten aus den Hosenbeinen . Wabert über ihre Schuhe ... Über meine ... Die zähe, rosig-schmierige Masse umschließt schon meine Knöchel ... Packt sie ... Saugt schmatzend daran . Ich kann ziehen, wie ich will, doch ich kriege meine Füße nicht mehr heraus . Nicht mal einen . Zumindest nicht, ohne meinen Schuh in diesem schleimigen Matsch zu verlieren, meinen ADIDAS .
    »Und ich kann überhaupt nicht sagen, wie unverantwortlich ich es von den Organisatoren finde, mich in meinem Gesundheitszustand jemandem anzuvertrauen, der offensichtlich mit mehr als nur einem Problem belastet ist.«
    Problem, dachte ich. Liegt es an mir, fragte ich mich, oder wie kommt es, dass ich mit kaum jemandem hier auch nur zwei Sätze wechseln kann, ohne dass dieses Wort auftaucht? Problem.
    »Ich verstehe nicht, wie den Verantwortlichen entgehen konnte, dass es sich bei Ihnen um einen polytoxigenen Psychotiker handelt.«
    »Das ist mir auch ein Rätsel«, sagte ich, stellte mich hinter sie, weg von diesen anklagenden Augen, drehte ihren Rollstuhl herum, und schob an.
    Ich schiebe sie zum Pulk und parke sie da, dachte ich. Soll sie doch jemand anderem in den Ohren liegen.
    »Und ich kann sehr wohl selber entscheiden, wann ich und wohin ich gefahren werden möchte! Unser Gespräch ist noch nicht beendet!«
    Ich muss bekloppt geworden sein, dachte ich. Mich auf so was einzulassen . Vollkommen bekloppt.
    »Ick schiebe ihn hier.« Wir waren bei der Aufgabenverteilung angelangt, und der, der sprach, war >Atze, Bandenkriminalität<, wie er sich mir vorgestellt hatte. Atze war die bärige Sorte, breit, mit Wampe, Vollbart, Pferdeschwanz und Stirnband, Ringen und Tattoos. Alles an ihm sprach >Biker<, bis hin zu der Jeansweste, die er über seiner Lederjacke trug, doch die Farben hintendrauf hatte er abgetrennt, was ein >Ex< vor sein Bikerdasein packte. Anhand der Stiche konnte ich trotzdem noch >Jokers out of Hell, Berlin< entziffern und ihn damit einordnen. Harter Verein, dem Atze da angehört hatte.
    Der, über den er sprach und den er schieben wollte, war der Zweite unseres Rollstuhlduos, den ich gerade das erste Mal richtig wahrnahm, dafür dann aber wie einen Schlag in die Fresse.
    »Horst?« Wenn man eine einzige Silbe stammeln kann, dann tat ich das. »Horst?« Ich konnte es nicht glauben. >Der Schlingernde Horst< haben wir ihn früher immer genannt, als wir noch bei den Stormfuckers waren, auch das nicht gerade ein verweichlichter Haufen. »Horst, du? Ich, ich, ich wusste nicht, dass du . Mir hat keiner gesagt, dass .« Horst hielt damals den Stormfucker-internen Rekord in Motorradstürzen. Kaum eine Woche verging, in der er nicht Schrott gebaut hätte. Kaum ein Knochen an ihm, der nicht irgendwann mal gebrochen gewesen wäre. Doch Horst war nicht zu beeindrucken gewesen. Ich habe ihn selbst mit Gipsbein fahren sehen.
    »Jo, da staunste«, kam es ungerührt zurück. »Und mir hat keiner gesagt, dass sie dich wieder eingebuchtet haben. Hattest du dich nicht selbständig gemacht mit .«
    »Ist nicht gelaufen«, unterbrach ich ihn rasch und machte mir eine geistige Notiz, ihn bei nächster Gelegenheit kurz beiseite zu nehmen. »Also bin ich zurück zum alten Geschäft. Und wie das so ist - ein Deal zu viel, und schwupps. Aber was ist mit dir? Wieso hockst du da im . im .« Ich brachte es irgendwie nicht über die Lippen.
    Horst zuckte die Achseln, »Ein Sturz zu viel. Nur einer, und schwupps, einmal um die Laterne gewickelt, und knacks .« Er grinste dünn und rieb sich das grau-stoppelige Kinn. Mann, er sah alt aus, faltig, regelrecht zusammengeschrumpelt. »Ab hier geht nichts mehr«, sagte er und deutete eine Linie in Bauchnabelhöhe an.
    »Scheiße«, sagte ich, sprachlos, überfordert, und mit »Jo, da sagste was«, stimmte Horst mir zu.
    Die heutige Etappe würde nur etwas über eine Stunde in Anspruch nehmen, verriet uns der Toni, was wir alle gut fanden. Ich denke mal, die meisten sahen sich schon auf der windstillen Seite einer

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