Fallera
letzten zwanzig Jahren immer und überall den jeweiligen Umständen angepasst habe.«
»Ja hast du denn das Faltblatt nicht gelesen?« So gut wie alle starrten mich jetzt an, als ob ich der Grund für die Verzögerung wäre und nicht dieser krachlederne Pedant.
Dr. Weifenheim beobachtete mich mit skeptischer Miene, was der Knacki-Fraktion nur recht schien. Besser du als ich, konnte man aus ihren Gesichtern lesen. Dem Spastiker, dem Riesenwüchsigen und dem Mongoloiden schien die Sache dagegen eher peinlich zu sein. Und Christine blickte wie immer. Als ob sie auf eine Chance lauerte, einen oder am besten jeden von uns mit bloßen Händen ums Leben zu bringen.
»Doch«, sagte ich.
»Und?«
»Und das ist das Ergebnis«, antwortete ich, am scharfen Rande der Geduld.
»Kristof, mit Schuhen wie diesen bringst du uns alle in Gefahr.«
Nu mach mal halblang, dachte ich. Und zwei Gelähmte in Rollstühlen auf den Berg zu karren macht die Sache sicherer?
»Ich sollte dich ins Tal schicken«, meinte er, sichtlich mit sich ringend, und ich griff schon mal nach den Riemen meiner Traglast, um sie in den Dreck fallen zu lassen.
Und tschüs, dachte ich.
»Ja, gemäß den Statuten meines Berufes müsste ich dich ins Tal schicken .« Er kramte in seiner Jackentasche und förderte ein Handy zutage.
Und tschüs auch Dotierung, mehr als angemessene, doch scheiß drauf.
». und die Behörden benachrichtigen, dass sie dich aufgreifen .« Er tippte ein bisschen auf der kleinen Tastatur herum und glotzte dann auf das Display, wie sie es alle tun, mit dieser selbstvergessenen Miene, die an Patienten unter starken Beruhigungsmitteln denken lässt oder an Altersheiminsassen vor dem Fernseher, ». doch .«.
Ah, dachte ich. Doch?
Der Toni konsultierte seine Uhr und dann wieder den Bildschirm des Handys.
»Doch die Zeit wird knapp«, meinte er mit etwas wie Verzweiflung in der Stimme.
Und damit waren wir unterwegs. Bergauf. Einen sich in Serpentinen windenden und praktisch nur aus Wurzeln und anderen Stolperfallen bestehenden, kaum auszumachenden Pfad durch kleinwüchsigen Kiefernwald bergauf.
»Was um alles in der Welt treibt dich denn so zur Eile?«, unterbrach ich unseren hinter mir gehenden Führer beim Versuch, mein Gewissen mit seinen Verantwortlichkeiten zu belasten. »Allein mit dem, was ich hier gerade hochbuckle, müssten wir genug Fressalien haben für einen ganzen Monat.«
»Das Wetter«, kam es bitter von hinten. Ich blickte hoch. Zwischen den lichten Kiefernkronen leuchtete es in schönstem, ungebrochenem Blau.
»Du kennst die Berge nicht, Kristof.«
Ich ließ das unkommentiert. Wo er Recht hat, dachte ich, hat er Recht.
»Der Winter hier kommt plötzlich. Und wir sind spät dran im Jahr. Diese ganze Aktion zu organisieren hat ewig gedauert. Allein der Schriftverkehr mit den Schweizer Behörden . Und der Wetterbericht für die nächsten Tage ist . na ja . noch sind sie sich nicht einig .«
Ich fragte ihn, wie er denn an Wetterdaten kam. Mir war bisher kein Radio aufgefallen, und mir war außerdem jedes Thema recht, das wegführte von meinem Schuhwerk.
»Aus dem Internet natürlich.«
Natürlich. Bloß war mir auch kein PC zu Augen gekommen, bisher.
»Hier, mein Handy. Es wählt mich direkt ins Web, und wenn ich dann .«
Und die nächsten dreißig Minuten ödete er mich mit den vielen überflüssigen Funktionen seines Telefones an.
Von einem Höhenmeter auf den anderen hörte der Wald auf. Blieb einfach unter uns zurück. Für kurze Zeit sah man noch die eine oder andere Baumgruppe, doch dann war Schluss mit Bäumen. Noch eine Stunde keuchender, schwitzender, sehnen-und muskelzerrender, das Hirn abstumpfender Plackerei später, und es war vorbei mit jeglicher Form von größerem Pflanzenwuchs. Die Todeszone, dachte ich. Wie am Everest. Mein Keuchen wurde nur noch von dem Alexanders übertroffen, und mein Schädel wollte mir platzen, und ich fragte mich, wieso wir keinen Sauerstoff dabeihatten. Der Toni verkündete, dass wir nun auf zweieinhalbtausend Meter seien, noch achthundert unterhalb des Gipfels, und er zeigte auf die Spitze einer eher undramatischen Erhebung. Das bisschen
Schnee obendrauf sah aus, als ob man es mit einer Schubkarre abtransportieren könnte. Ich hatte mit so was wie dem Matterhorn gerechnet und fühlte mich seltsam betrogen. Ohne dieses ganze Scheißgepäck hätten wir da an einem Tag rauf und wieder runter gekonnt. Dachte ich.
Wir errichteten Basislager 1 auf einer Decke aus Geröll
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