Ich gegen Dich
EINS
M ikey konnte es nicht fassen.
Da stand die Milch vor ihm auf der Ladentheke. Dort hielt ihm Ajay erwartungsvoll die ausgestreckte Hand hin. Und hier wühlte er selber zwischen den alten Bons und zerknüllten Papiertaschentüchern in seiner Jackentasche nach Münzen. Eine Frau in der Schlange hinter ihm scharrte mit den Füßen. Noch dahinter hüstelte ein Kerl ungeduldig.
Ärger regte sich in Mikeys Bauch. »Sorry«, murmelte er. »Ich muss es dalassen.«
Ajay schüttelte den Kopf. »Behalt die Milch und zahl morgen, schon okay. Und hier, nimm ein paar Schokoriegel für deine Schwestern mit.«
»Nee, lass stecken.«
»Sei nicht albern, nimm schon.« Ajay packte ein paar Kit-Kats in den Einkaufsbeutel mit der Milch. »Schönen Tag noch, okay?«
Das schien Mikey eher unwahrscheinlich. So einen hatte er seit Wochen nicht mehr gehabt. Zum Dank brachte er immerhin ein kurzes Nicken zustande, ehe er sich den Beutel schnappte und abzog.
Draußen hielt der Regen immer noch an, ein feiner Nebel, von dem Neonlichtbanner über der Tür beleuchtet. Er atmete tief ein, versuchte, das Meer zu schnuppern, aber es roch nach Kühlregal – hatte was mit den Ventilatoren zu tun, die warme Luft aus dem Laden hinter ihm rauspusteten. Er zog seine Kapuze hoch und überquerte die Straße auf seinem Weg zurück zur Siedlung.
Als er wieder in die Wohnung kam, saß Holly auf dem Teppichboden vor dem Fernseher und aß Cookie Crisps aus der Packung. Karyn hatte zu weinen aufgehört, kniete neben ihrer Schwester und bürstete ihr schweigend die Haare.
Mikey musterte sie prüfend. »Geht's dir besser?«
»Bisschen.«
»Und, willste mir sagen, was los war?«
Karyn zuckte mit den Schultern. »Ich hab versucht rauszugehen. Bin bis zur Haustür gekommen.«
»Ist doch schon mal was.«
Sie verdrehte die Augen. »Holt den Sekt raus.«
»Es ist ein Anfang.«
»Nein, Mikey, es ist das Ende. Holly hat Milch fürs Müsli gebraucht, und ich hab nicht mal das geschafft.«
»Ich hab welche mitgebracht, willste vielleicht 'nen Tee?«
Er ging in die Küche und füllte den Wasserkocher, machte erst die Vorhänge, dann das Fenster auf. Der Regen ließ nach, und die Luft draußen roch jetzt frisch. Er hörte ein Kind weinen. Eine Frau etwas rufen. Eine Tür fiel dreimal ins Schloss. Peng. Peng. Peng.
Holly kam rein und knallte die Müslipackung auf die Arbeitsplatte. Mikey zupfte am Kragen ihres Schlafanzugs. »Warum bist du nicht für die Schule angezogen?«
»Weil ich nicht hingeh.«
»Doch, natürlich.«
Sie ließ sich nach hinten gegen den Kühlschrank sinken, ruckte mit dem Kopf Richtung Decke. »Ich kann nicht zur Schule, heute ist die Kautionsanhörung!«
Er sah sie stirnrunzelnd an. Verdammt, woher wusste sie das? »Hör mal, Holly, wenn du versprichst, dass du dich anziehen gehst, kriegst du von mir ein KitKat.«
»Mit zwei oder vier Stangen?«
»Vier.«
Er kramte im Einkaufsbeutel, fischte einen Riegel raus und ließ ihn vor ihrer Nase baumeln. »Und kannst du Mum wecken?«
Überrascht schaute Holly auf. »Echt?«
»Ja-ha.« Wenn das hier kein Notfall war, was dann?
Holly schüttelte den Kopf wie über eine völlig abstruse Idee, schnappte sich das KitKat und flitzte die Treppe rauf.
Mum machte sich vor, die Polizei würde Karyn helfen, das war das Problem. Nachdem sie Karyn zur Wache gebracht und erzählt hatte, was passiert war, hatte Mum sich aus der Affäre gezogen, sich wahrscheinlich selbst eingeredet, dass sie ihren Teil beigetragen hatte. Aber die Polizei konnte man vergessen. Sie hatten Karyn massenhaft persönliche Fragen gestellt, obwohl sie durcheinander war. Dann hatte die Polizistin, die sie nach Hause begleitet hatte, die Nase gerümpft über die Unordnung, als würde sie über die ganze Familie urteilen. Mum fand das normal, aber Mikey hatte sich vor Wut auf die Zunge gebissen und Blut in seinem Mund geschmeckt, rostig und zäh.
Später, als die Polizistin weg war, hatte Mikey die Adresse aus Karyn rausgelockt und Jacko gesagt, er solle mit dem Auto kommen. Jacko brachte auch die Jungs mit, aber als sie am Haus von dem Wichser ankamen, waren sie zu spät – Tom Parker war schon vor Stunden verhaftet worden, und die Spurensicherung durchsuchte bereits alles.
Seit fast zwei Wochen versuchte Mikey nun schon, seinen Zorn runterzuschlucken. Aber wie konnte er seinem Magen abgewöhnen, sich jedes Mal zusammenzukrampfen, wenn Karyn weinte? Wie konnte er tatenlos zusehen, wie Holly Karyns Arm streichelte,
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