Fallon, Jennifer - Gezeitenstern Saga 1 - Der unsterbliche Prinz
Handschrift eines wahren Könners.
29
Am Morgen nach dem Ball machten Stellan und Enteny Debree, der König von Glaeba, vor dem Frühstück einen Spaziergang am Ufer des Sees. Seit der Ankunft des Königs in Lebec war das ihre erste Gelegenheit, vertraulich miteinander zu reden. Obwohl er bis jetzt noch keine entsprechende Bemerkung gemacht hatte, wusste Stellan, dass sein Cousin verstimmt war, und fragte sich, ob er womöglich Schlimmeres zu erwarten hatte als eine offizielle Rüge. Enteny war kein unvernünftiger Mann. Aber deshalb war er noch lange nicht besonders flexibel oder tolerant gegenüber den Launen seines Sohnes – oder Leuten, die sie zu billigen schienen.
Groß und gut gebaut, waren die Muskeln von Entenys Jugend in seinem nun schon vorgerückten Alter etwas schlaff geworden. Sein Haar war inzwischen vollständig ergraut, sein Gesicht zerfurcht von einem Leben mit Sorgen, mit denen sich nur wenige gewöhnliche Männer jemals konfrontiert sahen. Die beiden gingen den Weg am Wasser entlang, eine Zeit lang ohne zu sprechen. Der aufgeweichte Boden schmatzte unter ihren Schritten, und als der König endlich den Mund auftat, sprach er über Nebensächlichkeiten. Es dauerte eine Weile, bis er auf den wahren Grund dieses Spaziergangs am Seeufer zu sprechen kam. Die Sonne stand immer noch tief im Osten, über dem See lag ein schwacher Morgennebel. Rechts von Stellan flüsterte das hohe Schilf, und man hörte das leise Rascheln der Vögel, die darin nisteten. Es war windstill, der verhangene Himmel wartete nur darauf, seine Schleusen zu öffnen. Die Luft war so unbewegt, als hielte die Welt den Atem an.
»Mathu scheint seinen Aufenthalt hier in Lebec zu genießen«, bemerkte der König endlich. »Wenn er auch recht unerwartet kam.«
»Es tut mir leid, Enteny«, erwiderte Stellan. »Ich hätte mit Euch Rücksprache halten sollen, bevor ich ihn mitnahm.«
»Ihr hättet ihn unverzüglich zu Reon zurückschicken sollen«, sagte der König tadelnd. »Es war nicht Mathus Entscheidung, wohin ich ihn schicke, und mit Sicherheit stand es Euch nicht zu, meinen Wünschen zuwiderzuhandeln. Ich weiß noch nicht einmal genau, wie es überhaupt dazu kam, dass er hier in Lebec gelandet ist. Reon behauptet, dass Ihr die ganze Sache absichtlich eingefädelt habt, zu dem Zweck, meinen Sohn mit Eurer Nichte zusammenzubringen.«
Der Fürst schüttelte den Kopf. »Wenn ich eine Verbindung von Kylia und Mathu anstreben würde, wäre ich schon lange zu Euch gekommen, Enteny, und hätte Euch die Sache offiziell vorgeschlagen. Ich habe nichts dabei zu gewinnen, wenn ich sie zusammenbringe und hoffe, dass sie sich ineinander verlieben.«
»Nun … wollt Ihr das?«
»Was?«
»Habt Ihr vor, mich auf eine Verbindung von Kylia und Mathu anzusprechen?«
»Nein.«
»Warum nicht?«, knurrte der König. »Ist mein Sohn etwa nicht gut genug für eine Descan?«
Stellan lächelte. »Ich hatte den Eindruck, dass Ihr bereits Sarina, Reons älteste Tochter, als Mathus Gemahlin im Sinn hattet. Darum habt Ihr ihn doch nach Veneria geschickt.«
Unerwartet seufzte der König. »Bei den Gezeiten, ist denn alles, was ich tue, so leicht zu durchschauen?«
»Darüber zu spekulieren, wen Euer Sohn einmal heiraten wird, ist ein populärer Sport, seit Mathu seinen ersten Atemzug getan hat. Es wird nur schlimmer werden, bis er endlich vom Markt genommen ist.«
Den König schienen diese Neuigkeiten nicht sonderlich zu überraschen. »Karyl Deryon sagt das auch. Wurde denn um mich damals, als ich in Mathus Alter war, genau so wild spekuliert?«
»Vermutlich«, bekundete Stellan. »Ich bin zu jung, um mich daran zu erinnern. Als ich zum ersten Mal in den Palast von Herino kam, wart Ihr schon verheiratet.«
Enteny blieb stehen und sah über den See hinaus, er blinzelte ein wenig, als die aufgehende Sonne einen goldenen Pfad auf die unbewegte Wasserfläche warf. Einen Augenblick schwieg er, dann wandte er sich wieder seinem Cousin zu. »Reon ist sehr wütend, Stellan. Wütend auf Mathu, weil er Veneria verlassen hat, ohne sich auch nur zu verabschieden. Wütend auf Euch, weil Ihr ihn nach Lebec mitgenommen habt, statt ihn nach Veneria zurückzuschicken. Auf Lord Deryon, der Euch um Hilfe gebeten hat, als der Junge in Herino auftauchte, anstatt in Veneria Bescheid zu geben. Wütend auf mich, weil ich nicht darauf bestanden habe, dass Ihr ihn zurückschickt …«
»Warum habt Ihr mir nicht in dem Moment, als Ihr davon erfahren habt,
Weitere Kostenlose Bücher